atypische Beschäftigung

 

ATYPISCHE BESCHÄFTIGUNG:

 

19/05/2017:

Vollzeitjobs verdrängen atypische Beschäftigung nicht

(von Markus Krüsemann)

 

Die gute Nachricht zuerst: Die sozialversicherungspflichtige Vollzeiterwerbstätigkeit ist im vergangenen Jahr weiter gestiegen. Die schlechte: Das Plus an Vollzeitjobs hat die atypische Beschäftigung nicht zurückdrängen können. Auch 2016 legte sie wieder leicht zu. Die Spaltung des Arbeitsmarktes wird zur 'Fait accompli'.

 

Atypische Erwerbsformen wie Leiharbeit, Teilzeit- und Minijobs sind vielfach durch Beschäftigungsunsicherheit, nicht existenzsichernde Löhne oder durch einen eingeschränkten Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen gekennzeichnet. Die Schönredner des massiv deregulierten Arbeitsmarktes und die Profiteure von prekärer und schlecht entlohnter Beschäftigung behaupten indes seit Jahren, es sei alles halb so wild mit der Erwerbstätigkeit jenseits des Normalarbeitsverhältnisses. Vielfach würden Menschen solche Jobs aus freien Stücken wählen, und überhaupt habe atypische Beschäftigung gar keine regulären Jobs verdrängt.

 

Letzteres zumindest ist eine ziemlich steile These. Das hieße ja, nirgendwo wären von Stammbelegschaften bekleidete Arbeitsplätze durch Leiharbeit und Werkvertragsvergabe ersetzt worden, kein Unternehmen habe eine volle Stelle in Teilzeit- und Minijobs aufgesplittet. Das ist natürlich Unsinn. Man denke nur an die Entwicklung im Einzelhandel und der Gastronomie oder schaue auf die von Outsourcing geprägten Produktionsstrukturen in der Automobilindustrie. Und die so entstandenen atypischen und zu oft auch prekären Arbeitsverhältnisse waren keine zusätzlich geschaffenen Stellen. Ein Vergleich des Wachstums der Erwerbstätigenzahlen mit der Entwicklung des Arbeitsvolumens verdeutlicht jenseits aller Beschönigungen, dass seit den 1990er Jahren bis weit ins erste Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende Arbeit nicht neu geschaffen, sondern vor allem nur umverteilt worden ist – Prekarisierung inklusive.

 

Kehrt der Standard auskömmlicher Vollzeitarbeitsplätze zurück?

 

Seit einigen Jahren aber steigt das Arbeitsvolumen wieder an. Der dahinter stehende Beschäftigungsaufbau beruht dabei auch auf einer messbaren Zunahme von Normalarbeitsverhältnissen. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zeichnet sich eine kleine Renaissance der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjobs ab.

 

Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes hat sich der Schwund der Normalarbeit im Bereich der Kernerwerbstätigen (Erwerbstätige im Alter von 15 bis 64 Jahren, die sich weder in Bildung oder Ausbildung oder einem Wehr-/Zivil- und Freiwilligendienst befinden) nach 2006 nicht mehr fortgesetzt, wenn auch die Wachstumsraten zunächst sehr niedrig ausfielen. Das mit anderen Zahlen operierende Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) weist dann ab 2012 wieder eine stetige Zunahme der Vollzeiterwerbstätigkeit auf.

 

Bezogen auf die Gruppe aller abhängig Beschäftigten sieht auch das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung die Vollzeiterwerbstätigkeit seit 2012 im Aufwind, auch wenn sie erst zwischen 2014 und 2015 mit einem Plus von 2,2 Prozent erkennbar hat zulegen können. Soeben veröffentlichte Zahlen für 2016 zeigen einen anhaltenden Aufwärtstrend. So stieg die Zahl der sozialversicherungspflichten Vollzeitstellen diesmal um 1,1 Prozent von 22,58 auf 22,83 Millionen Beschäftigte.

 

Beschäftigungsaufbau bringt keine Wende bei atypischer Beschäftigung

 

Mit der anziehenden Nachfrage nach Arbeitskräften hat sich die Lage am Arbeitsmarkt demnach quantitativ und scheinbar auch qualitativ etwas entspannt. Zumindest stimmt mittlerweile das neoliberale Diktum, dass keine reguläre Beschäftigung (mehr) verdrängt wird. Wie sich allerdings immer deutlicher abzeichnet, kann die Umkehrung der Behauptung umso mehr Gültigkeit für sich beanspruchen: Vollzeitjobs können offenbar die atypische Beschäftigung nicht verdrängen.

 

Nach den in der WSI-Datenbank „Atypische Beschäftigung“ zusammengestellten Zahlen haben sich auch die atypischen Beschäftigungsformen in den vergangenen Jahren weiter ausbreiten können (siehe 26.04.2016). Und trotz der positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt hat sich dieser Trend auch 2016 fortgesetzt. Wie das WSI in einer Pressemeldung betont, haben die atypischen Jobs sogar stärker zugenommen als die sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeit.

 

Für 2016 weist das WSI insgesamt über 14,47 Millionen atypisch Beschäftigte aus, das sind 347.000 mehr als im Vorjahr. Der Anteil von Teilzeitstellen, Leiharbeit und ausschließlich ausgeübten Minijobs (ohne Nebenjobs) an der Gesamtbeschäftigung (alle abhängigen Hauptbeschäftigungsverhältnisse, ohne Beamte und Selbständige) ist damit von 39,3 Prozent im Jahr 2015 auf 39,6 Prozent im Jahr 2016 gestiegen, das ist der höchste Stand seit 13 Jahren.

 

 Entwicklung der Beschäftigungsformen 2007 bis 2016

Entwicklung atypischer Beschäftigung bis 2016
Quelle: WSI-Datenbank "Atypische Beschäftigung"

 

Wie obige Grafik zeigt, haben sich die einzelnen Beschäftigungsformen unterschiedlich entwickelt. Bei der Leiharbeit setzt sich der stetige Aufwärtstrend der letzten Jahre fort. Mittlerweile sind es mehr als 900.000 Leihkräfte. Ihr Anteil an allen abhängig Beschäftigten stieg von 2,5 auf 2,6 Prozent. Die Zahl der ausschließlich in Minijobs Beschäftigten sank hingegen im zweiten Jahr in Folge. 2016 waren es noch 5,14 Millionen nach 5,19 Millionen im Jahr 2015. Ihr Anteil ging damit von 14,4 auf 14,1 Prozent zurück.

 

Ganz anders die Entwicklung bei den Teilzeitbeschäftigten. Ihre Zahl stieg noch einmal deutlich an, von 8,05 Millionen in 2015 auf 8,40 Millionen im Jahr 2016. Offensichtlich kommt es im Bereich der atypischen Beschäftigung zu einer Verschiebung von den Minijobs zur Teilzeitarbeit. Die nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns beobachtete Umwandlung von geringfügiger in sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung (vgl. 11.07.2016) dürfte hier eine nicht geringe Rolle spielen. Jedenfalls gehen mittlerweile 23 Prozent aller abhängig Beschäftigten einer Teilzeitarbeit nach.

 

 Anteile atypisch Beschäftigter an allen abhängig Beschäftigten (in Prozent)

Anteile atypischer an Gesamtbeschäftigung
Quelle: WSI-Datenbank "Atypische Beschäftigung"

 

Allerdings beruht der im Vergleich zu anderen Erhebungen auffällig hohe Wert im Segment der Teilzeitbeschäftigung auf einer recht weit gefassten Definition von Teilzeitarbeit. Demnach gilt dem WSI jegliche Hauptbeschäftigung bereits dann als Teilzeitarbeit, wenn die regelmäßige Wochenarbeitszeit eines Arbeitnehmers kürzer ist als die einer vergleichbaren Vollzeitkraft. Das ist für die Interpretation atypischer Beschäftigung nicht ganz unproblematisch, denn eine vollzeitnahe Teilzeitstelle kann durchaus eine existenzsichernde und verlässliche Perspektive bieten. Andere Analysen zur atypischen Beschäftigung, wie sie etwa das Statistische Bundesamt regelmäßig vorlegt (vgl. 21.07.2016), sprechen wohl auch deshalb erst dann von einem Teilzeitjob, wenn die wöchentliche Arbeitszeit weniger als 21 Stunden beträgt.

 

Mit ihrer regionalen Datenbank "Atypische Beschäftigung" dokumentiert das WSI seit vielen Jahren bereits die Ausbreitung atypischer Beschäftigungsformen. Die Angaben beruhen auf den neuesten verfügbaren Statistiken der Bundesagentur für Arbeit. So können alle abhängigen Beschäftigungsverhältnisse regional differenziert erfasst werden. Interessierte können somit nicht nur auf die Kennziffern für einzelne Bundesländer zugreifen, vielmehr kann auch für jeden Landkreis und jede kreisfreie Stadt Deutschlands der Anteil von Teilzeitarbeit, Leiharbeit und Minijobs an allen Beschäftigungsverhältnissen abgerufen werden.

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Quellen:

WSI-Pressemitteilung vom 18.05.2017

 

Spiegel online vom 18.05.2017

 

WSI-Datenbank „Atypische Beschäftigung“

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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