prekäre und atypische Beschäftigung

 

ATYPISCHE BESCHÄFTIGUNG:

 

16/08/2017:

Keine Wende bei der atypischen Beschäftigung

(von Markus Krüsemann)

 

Der Beschäftigungsaufbau des vergangenen Jahres hat neben einem Plus bei den Vollzeitjobs auch die Zahl der atypisch Beschäftigten weiter steigen lassen. Seit drei Jahren ist ihr Anteil an allen Kernerwerbstätigen nahezu unverändert. Definiert man „reguläre Beschäftigung“ strenger, treten die Konturen eines gespaltenen Arbeitsmarkts noch schärfer hervor.

 

Ab wann kann man Beschäftigungsverhältnisse als „reguläre Arbeit“ bezeichnen. Weitgehend konsensfähig ist es, Minijobs, Leiharbeit und befristete Anstellungen nicht dazu zu zählen, sie als atypische Beschäftigung zu bezeichnen. Doch was ist mit der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung? Ab welchem Arbeitsumfang wird aus einer atypischen eine reguläre Beschäftigung, ab 20 oder erst ab 30 Wochenstunden? Und kann man sie dann als Normalarbeitsverhältnis bezeichnen, steht der Begriff doch für eine unbefristete sozialversicherungspflichtige Vollzeitstelle jenseits der Leiharbeit. Streng genommen wäre dann auch nur diese Normalarbeit mit voller Stundenzahl die eine, die Reinform der regulären Beschäftigung.

 

Was wie eine akademische Spiegelfechterei anmutet, ist durchaus von politischer Relevanz, denn je nach Definition erscheint die Lage auf dem Arbeitsmarkt in einem anderen Licht. Verfechter eines liberalisierten, deregulierten Arbeitsmarktes - meist vereint unter der Doktrin „Hauptsache Arbeit“ - haben ein großes Interesse daran, den Begriff der regulären Arbeit möglichst weit zu fassen, lässt sich so zum Beispiel ganz gut verschleiern, dass viele derart gelabelte Jobs alles andere als regulär sind, etwa weil sie aufgrund mieser Bezahlung oder zu geringer Stundenzahl  allein nicht existenzsichernd sind, weshalb die so Beschäftigten häufig vom Staat unterstützt werden (müssen). Wer das als ungerechtfertigte Jobsubventionierung kritisiert und stattdessen für gute Arbeit und die Wiederherstellung der zerstörten Ordnung am Arbeitsmarkt eintritt, der wird den Begriff der regulären Arbeit strenger fassen und gegenüber den anderen, oft unsicheren und/oder schlecht bezahlten Beschäftigungsformen klarer abgrenzen wollen.

 

Die Erstgenannten werden die Auswertungen des Statistischen Bundesamtes zur Entwicklung der atypischen Beschäftigung daher mit größerem Wohlwollen betrachten, denn die Bundesstatistiker haben ein eher lockeres Verhältnis zur Normalarbeit: Sobald ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis mehr als 20 Wochenstunden umfasst, sprechen sie von regulären Arbeitsplätzen. Und die sind nach den heute vom Bundesamt vorgestellten Zahlen auch im Jahr 2016 wieder gestiegen. „808.000 Menschen mehr in regulären Jobs als noch 2015“, gibt Spiegel Online einen Teil der Befunde korrekt wieder. Stärker als die Zahl der atypisch Beschäftigten sei sie gewachsen, wird getitelt. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) zeigt sich darob so erfreut, dass sie die Prekarisierung am Arbeitsmarkt per Twitter gleich zu einem Märchen erklären will. Doch geben die Zahlen das wirklich her?

 

Mehr atypisch Beschäftigte bei kaum verändertem Anteil an der Gesamtbeschäftigung

 

Laut Pressemitteilung des Statist. Bundesamtes ist die Zahl der atypisch Beschäftigten zwischen 2015 und 2016 um 121.000 auf annähernd 7,66 Millionen gestiegen, ein Plus von 1,6 Prozent. Gemeint sind hier jene Erwerbstätigen, die nur befristet oder als LeiharbeiterInnen beschäftigt sind, einem Minijob als Haupterwerb nachgehen, oder in Teilzeit mit bis zu 20 Wochenstunden arbeiten. Ihr Anteil an allen Kernerwerbstätigen - das sind selbstständig und abhängig Erwerbstätige zwischen 15 und 64 Jahren, die sich nicht in Bildung, Ausbildung oder im Wehr- oder Freiwilligendienst befinden, und deren Arbeit regelmäßig mindestens zehn Stunden pro Woche umfasst (und nur die werden betrachtet) - hat sich damit zwar nicht erhöht, er ist jedoch auch nur unwesentlich von 20,8 auf 20,7 Prozent gesunken.

 

 Kernerwerbstätige nach einzelnen Erwerbsformen (in 1.000) 1993 bis 2016

Entwicklung regulärer und atypischer Beschäftigung von 1993 bis 2016
Quelle: Statist. Bundesamt: Kernerwerbstätige nach einzelnen Erwerbsformen. Ergebnisse des Mikrozensus

 

Grund für diese Entwicklung ist das oben bereits angerissene gleichzeitige Wachstum bei der Gruppe der NormalarbeitnehmerInnen (ab 21 Wochenstunden aufwärts). Hier waren es 3,3 Prozent mehr als im Vorjahr. Betrachtet man nur das Segment der unbefristeten sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen, also das Normalarbeitsverhältnis im engeren Sinne, so ergibt sich für 2016 ein Plus von 622.000 Vollzeitkräften, das sind 2,9 Prozent mehr als 2015. Mit gut 22 Millionen ArbeitnehmerInnen hat die Vollzeitbeschäftigung jetzt immerhin wieder das Niveau von 1999 erreicht.

 

Zahlen geben nicht das gesamte Ausmaß atypischer Beschäftigung wieder

 

So weit, so positiv. Doch die vom Statistischen Bundesamt alljährlich durchgeführte Auswertung von Daten des Mikrozensus hat den Nachteil, dass das gesamte Ausmaß atypischer Beschäftigung nicht erfasst wird. Das liegt zunächst an der Beschränkung der Grundgesamtheit auf die Gruppe der Kernerwerbstätigen. Während damit einerseits die häufig einer atypischen Beschäftigung nachgehenden Erwerbstätigengruppen der Schüler/innen, Studierenden und Rentner/innen keine Berücksichtigung finden, werden andererseits die wohl kaum von atypischer Beschäftigung betroffenen Selbstständigen und Familienhelfer/innen mit einbezogen. Noch weiter entschärft wird die Perspektive auf den Arbeitsmarkt dadurch, dass Teilzeitarbeit bereits ab mehr als 20 Wochenstunden dem Normalarbeitsverhältnis zugeschlagen wird (siehe die Erläuterung des Statist. Bundesamtes).

 

Kontrastreicher und damit aussagekräftiger wären die Befunde sicherlich, wenn man die Grenze bei 30 Wochenstunden zöge. Fasst man die atypische Beschäftigungsform Teilzeit noch strenger und definiert eine Hauptbeschäftigung bereits dann als Teilzeitarbeit, wenn die regelmäßige Wochenarbeitszeit eines Arbeitnehmers kürzer ist als die einer vergleichbaren Vollzeitkraft, so kommt man zu sehr viel schlechteren Ergebnissen. Dann, so die Befunde des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) vom Mai 2017, waren im Jahr 2016 mehr als 14,4 Mio. ArbeitnehmerInnen atypisch beschäftigt. Auch ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung ist dann nicht mehr gefallen, sondern von 39,3 Prozent im Jahr 2015 auf 39,6 Prozent im Jahr 2016 gestiegen (siehe 19.05.2017).

 

Fazit: Keine Wende bei atypischer Beschäftigung

 

Unter Verwendung einer recht eingeschränkten Definition von atypischer Beschäftigung kann das Statist. Bundesamt eine positive Entwicklung am Arbeitsmarkt vermelden. Es gibt wieder mehr Vollzeitstellen, und anders als in früheren Jahren geht die Ausweitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr zu Lasten der Normalarbeit und der Vollzeitbeschäftigung. Fakt ist aber auch, dass atypische Beschäftigung selbst in der derzeitigen Phase eines von der guten Konjunktur getriebenen kräftigen Beschäftigungswachstums nicht mehr zurückgedrängt wird. Längst hat sie sich als festes Segment am gespaltenen Arbeitsmarkt etabliert, daran ändern auch die Rückgänge der Jahre 2011 bis 2014 nichts (siehe 21.08.2015). Die waren so gering, dass schon damals von einer Verfestigung auf hohem Niveau gesprochen werden musste. Der Beschäftigungsaufbau bringt keine Wende bei der atypischen Beschäftigung, und das ist jenseits aller definitorischen Feinheiten eine schlechte Nachricht.

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Quellen:

Pressemitteilung Nr. 281 des Statist. Bundesamtes vom 16.08.2016.

 

Statist. Bundesamt: Kernerwerbstätige nach einzelnen Erwerbsformen, 1991 bis 2016.

 

„Reguläre Arbeit wächst stärker als Leiharbeit, Minijobs und Teilzeit“, Spiegel online vom 16.08.2017

 

Weiterlesen:

 

- „Prekäre Beschäftigung: Zahlenspiele“, Le Bohémien vom 04.05.2015.

 

- WSI-Datenbank „Atypische Beschäftigung“

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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