Mindestlohn Lohnuntergrenze

 

MINDESTLÖHNE:

 

16/06/2017:

Von den wundersamen Wirkungen des Mindestlohns

(von Markus Krüsemann)

 

Was wurde im Vorfeld der Mindestlohneinführung nicht alles spekuliert, gedroht, befürchtet und verheißen. Mittlerweile herrscht weitgehend Klarheit: Die Negativwirkungen sind geringer als selbst von Optimisten erwartet, die positiven Folgen überraschend zahlreich, und einige Effekte hatten, wenn überhaupt, wohl nur die Wenigsten erwartet. Wie wundersam.

 

Trotz aller Unzulänglichkeiten kann die Einführung eines allgemeinverbindlichen gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2015 zu den bedeutendsten Sozialreformen der Nachkriegszeit gezählt werden. Zwar sind die aktuell 8,84 Euro/Stunde (brutto) nicht armutsfest, und auch die zahlreichen Ausnahme- und Übergangsregelungen verwässern die Wirkung, dennoch kommt es einer historischen Zäsur gleich, dass vor dem Hintergrund eines ausufernden Niedriglohnsektors eine Haltelinie gegen Tiefstlöhne und Lohndumping gezogen worden ist.

 

Über die Einführung einer allgemeinen Lohnuntergrenze wurde im Vorfeld heftig gestritten. Während die Befürworter eines Mindestlohns vor allem auf die Erfahrungen aus anderen Ländern und positive Befunde der neueren internationalen Mindestlohnforschung verwiesen, brachten seine Gegner Modellrechnungen und ökonometrische Schätzungen in Stellung. Dabei kreiste die Diskussion fast ausschließlich um die Frage nach den Beschäftigungswirkungen. Forschungsinstitute, die die Mindestlohneinführung als Realexperiment mit ungewissem Ausgang betrachteten, waren hier auf vorsichtige Stellungnahmen bedacht. Gewerkschaftsnahe Institute und ForscherInnen erstellten hingegen tendenziell positive Arbeitsplatzprognosen.

 

Die von den Arbeitgebern finanzierten bzw. ihnen nahe stehenden Forschungsinstitute, diverse neoliberale Lobbyorganisationen (manchmal ist der Unterschied da nur ein hauchdünner) und die neoklassisch verschulten Experten unter den Ökonomen hingegen setzen ganz unverblümt die Mär vom gefährlichen Jobkiller in die Welt. Doch ihre teils larmoyanten Versuche, mit der Warnung vor hunderttausenden Jobverlusten längst überfällige Korrekturen im Lohngefüge zu unterlaufen, waren vergebens. Der Mindestlohn kam - und mit ihm ging zunächst das Mahnen der Gegner und Jammern der Skeptiker weiter.

 

Beschäftigungsverluste seien weiterhin gewiss, hieß es, sie würden nur durch die gute Konjunktur verhindert. Später sprach man lieber von all den nicht geschaffenen Jobs, die ohne Mindestlohn hätten entstehen können. Zudem sollten überall Preissteigerungen den Menschen das Leben schwer machen, auch der Gurke, dem Spargel und der Erdbeere sollte es an den Kragen, oder besser, die Wurzel gehen.

 

Nichts davon ist in zu Sorge Anlass gebendem Maße eingetreten. Die wenigen tatsächlichen Jobverluste wurden durch einen anhaltenden Beschäftigungsaufbau mehr als wettgemacht. Auch der Konsum brach nicht ein, im Gegenteil. Ob Taxifahrten oder Restaurantbesuche, für (halbwegs) ordentlich bezahlte Arbeit waren und sind die Menschen in der großen Mehrzahl bereit, mehr Geld zu zahlen. Und Gurken, Spargel und Erdbeeren aus heimischen Gefilden verkaufen sich weiterhin gut. Offensichtlich hatten all jene recht, die immer schon davon ausgingen, dass vom Mindestlohn verursachte Preissteigerungen durch die ebenfalls von ihm bewirkte Kaufkraftsteigerung kompensiert werden.

 

Während das ganz überwiegende Ausbleiben der Negativwirkungen letztlich wenig, das Nicht-Eintreten der diversen Horrorszenarien kaum unerwartet kam, hält der Mindestlohn bei den positiven Wirkungen neben Erwartbarem auch die ein oder andere unerwartete Überraschung parat.

 

Bessere Arbeitsbedingungen, höhere Arbeitszufriedenheit

 

Wenig überraschend: Beschäftigte, die von der Mindestlohneinführung unmittelbar betroffen waren, zeigten ein höhere Jobzufriedenheit, die nahezu ausschließlich auf eine gesteigerte Zufriedenheit in puncto Entlohnung zurückzuführen sei, so der Befund einer Studie aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus dem Jahr 2016. Hat der Mindestlohn aber auf andere Dimensionen der Jobzufriedenheit tatsächlich kaum Einfluss, wie die Studie weiter festhält?

 

Offensichtlich scheinen die Wirkungen des Mindestlohns auf die Arbeit von Niedriglohnbeschäftigten damit nicht erschöpft. Eine kürzlich beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung entstandene Studie kommt zu dem so vermutlich nicht erwarteten Ergebnis, dass der Mindestlohn auch die Arbeitsplatzqualität von Beschäftigten verbessert hat, die von der Einführung der Lohnuntergrenze profitieren konnten. Mit dem Gehaltssprung hätten sich deren Arbeitsbedingungen verbessert. So berichteten Mindestlohn-Beschäftigte in der Befragung über mehr und anspruchsvollere Arbeit. Gleichzeitig sei aber die Gesamtarbeitszeit zurückgegangen, wodurch sich für die Beschäftigten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert habe.

 

Unstrittig war bisher, dass Arbeitgeber zur Kompensation der durch den Mindestlohn gestiegen Personalkosten mit Produktivitätssteigerungen reagieren, was sich für die Beschäftigten in der Regel in einer höheren Arbeitsverdichtung bemerkbar macht. Eher überraschend ist indes, dass die Betroffenen dies positiv wahrnehmen, da aus Arbeitsverdichtungen folgende Mehrbelastungen generell eher negativ konnotiert werden. Offensichtlich maßen die Befragten den positiven Begleiterscheinungen der Produktivitätssteigerung größere Bedeutung zu: Sie berichteten über eine höhere Wertschätzung durch Vorgesetzte, über ein besseres Klima zwischen ihren Kollegen und den Wegfall von überlangen Arbeitswochen.

 

Kaum Arbeitsplatzverluste, stattdessen weiter anziehender Beschäftigungsaufbau

 

Schon vor Einführung des Mindestlohns wurden fundierte Zweifel an den oft schrillen Warnungen vor dem Mindestlohn als Jobkiller geäußert. Diese waren berechtigt, denn nach 2015 hat es keine nennenswerten Arbeitsplatzverluste gegeben. Im Gegenteil: Der Beschäftigungsaufbau ging und geht munter weiter - und gerade der Mindestlohn mit seiner positiven Wirkung auf die Konsumnachfrage hat daran maßgeblichen Anteil.

 

Eineinhalb Jahre nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns weist die Gesamtbeschäftigung in Deutschland „weiter eine positive Entwicklung auf, überwiegend getrieben von einer stetig zunehmenden Anzahl an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten“, so jedenfalls lautet der Befund in der dritten Ausgabe des IAB-Arbeitsmarktspiegels. In Zahlen: Zwischen Januar 2015 und Juni 2016 ist die Zahl der ausschließlich sozialversicherungspflichtig Beschäftigten saisonbereinigt um gut 800.000 Personen gewachsen. Trotz der guten konjunkturellen Lage ein durchaus erstaunliches Ergebnis.

 

Noch erstaunlicher: Der Beschäftigungsaufbau fand gerade auch in den von der Mindestlohneinführung betroffenen Niedriglohnbranchen statt. Wie sich dem ersten Bericht der Mindestlohnkommission entnehmen lässt, war in den ersten acht Monaten mit allgemeiner Lohnuntergrenze in den vom gesetzlichen Mindestlohn hoch betroffenen Branchen ein Zuwachs in der Gesamtbeschäftigung zu verzeichnen sei, der höher ausfiel als in den wenig betroffenen Branchen. Bei ausschließlicher Betrachtung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung fällt der Befund sogar nach deutlicher aus.

 

Welchen Anteil der Mindestlohn am Jobaufbau im Einzelnen auch haben mag, er treibt ihn jedenfalls weiter mit voran. Aktuell ist von mindestens 500.000 neuen Jobs die Rede. So lautet das Ergebnis einer Befragung durch den Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK), einem Mindestlöhnen ziemlich abholden Verband, der im Vorfeld vor hohen Jobverlusten warnte und noch kurz nach Einführung des Mindestlohns ebenfalls per Befragung den Mindestlohn zu einer Jobbremse erklären ließ. Wie man sich doch "irren" kann.

 

Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Stellen

 

Mit Einführung des Mindestlohns hatten Minijobs für viele Unternehmen an Attraktivität verloren, was unter anderem auch daran lag, dass er ihnen die Wiedereinführung einer Höchstarbeitsgrenze bescherte. Vielfach sorgten aber auch die mindestlohnbedingten Einkommenserhöhungen dafür, dass (bei unveränderter Arbeitszeit) die Geringfügigkeitsschwelle überschritten wurde. Sinkende Beschäftigungszahlen waren die Folge. Hatte es im Jahresdurchschnitt 2014 noch gut fünf Mio. ausschließlich geringfügig Beschäftigte gegeben, so ging ihre Zahl 2015 auf durchschnittlich 4,8 Millionen zurück. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2016 fielen die Verluste wieder geringer aus (siehe 12.04.2017). Aktuell weist die Arbeitsmarktstatistik seit Einführung des Mindestlohns etwa 200.000 ausschließlich geringfügig Beschäftigte weniger aus.

 

Doch wurden die Minijobs nicht alle ersatzlos gestrichen: Im Januar 2015, dem Monat mit den höchsten Minijobeinbußen, war für „insgesamt rund 57 Prozent der zusätzlichen Abgänge aus ausschließlich geringfügiger Beschäftigung (…) mit einem Übergang in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verbunden“, schrieb die Mindestlohnkommission in ihrem ersten Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns. Nach Analysen des IAB handelte es sich dabei nicht um kurzfristige, sondern um nachhaltige betriebliche Anpassungsreaktionen, denn ein Jahr nach der Umwandlung sei die Mehrheit der vormals geringfügig Beschäftigten sowohl im selben Betrieb als auch weiterhin sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen.

 

Was fehlt:

 

Wenig überraschend fehlen einige wichtige, von vorneherein nicht zu erwartende Verbesserungen für Geringverdienende. Der zu niedrig angesetzte Mindestlohn kann bei Niedriglöhnen und Armutsrenten kaum Wirkung entfalten. Auch mit Mindestlohn-Stundensätzen entkommt niemand dem Niedriglohnsektor. So sollte sich auch niemand wundern, dass die Zahl der Aufstocker seit 2015 nicht deutlicher zurückgeht (siehe 03.02.2017). Der Mindestlohn mag helfen, kann das Problem aber nicht lösen.

 

Derzeit ist der Mindestlohn auch kein Rezept gegen Altersarmut, denn dafür müsste er bei weit über elf Euro liegen. Was fehlt ist also neben der Abschaffung der Ausnahmeregeln eine deutliche Anhebung der Lohnuntergrenze auf ein Niveau, das nach langjähriger Erwerbstätigkeit eine Rente auch oberhalb des Niveaus der Grundsicherung im Alter ermöglicht.

 

Ein Mindestlohn von zwölf Euro oder höher? Da werden die Arbeitgeber und ihre Lobbyisten Sturm laufen und schnell wieder die Jobkiller-Keule schwingen. Doch wer kann sagen, welche wundersamen Wirkungen so ein raumgreifendes Lohnplus auslösen könnte. Die bisherigen Erfahrungen böten Anlass genug, beim Realexperiment mit Zuversicht die nächste Stufe zu zünden. Doch da fehlt es wohl weniger an Mut als an politischem Willen.

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Quellen:

- Bosch, G. (2014): Zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro in Deutschland, IAQ Standpunkt 2014-03, Duisburg.

 

- Rehm, M./ Theurl, S. (2017): Mindestlohn: Höchstens mikroskopische Beschäftigungseffekte. blog.arbeit-wirtschaft.at, Blogeintrag vom 04.04.2017.

 

- Bossler, M./ Broszeit, S. (2016): Do minimum wages increase job satisfaction? Micro data evidence from the new German minimum wagedata. IAB Discussion Paper, Nr. 15/2016, Nürnberg.

 

- Pusch,T./ Rehm, M. (2017): Positive Effekte des Mindestlohns auf Arbeitsplatzqualität und Arbeitszufriedenheit. In: Wirtschaftsdienst, 97. Jg., H. 6, S. 409-414.

 

- vom Berge, P./ Kaimer, S. u.a. (2017): Arbeitsmarktspiegel: Entwicklungen nach Einführung des Mindestlohns (Ausgabe 3). IAB Forschungsbericht, Nr. 02/2017, Nürnberg.

 

- Mindestlohnkommission (2016): Erster Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns. Bericht der Mindestlohnkommission an die Bundesregierung nach § 9 Abs. 4 Mindestlohngesetz, Berlin.

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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