Nordrhein-Westfalen

 

ATYPISCHE BESCHÄFTIGUNG:

 

14/02/2017:

NRW - weiterhin kein Land der fairen Arbeit

(von Markus Krüsemann)

 

Mit einer ambitionierten Landesinitiative will das nordrhein-westfälische Arbeitsministerium atypische und schlecht entlohnte Beschäftigung zurückdrängen und NRW zum "Land der fairen Arbeit" machen. Vier Jahre sind ins Land gegangen, doch die aktuellen Zahlen für 2015 lassen keine Fortschritte erkennen. Ist doch alles nur Schaufensterpolitik?

 

Auf seiner Webseite bewirbt das Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales (MAIS) Nordrhein-Westfalen als „Land der fairen Arbeit“. Eine kuschelige Formulierung, die wohlweislich keinen Ist-Zustand beschreiben kann, denn, so weiß auch das Ministerium, überdurchschnittlich viele Menschen arbeiten seit Jahren in unsicheren und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen. Damit sich das ändert, damit atypische Beschäftigung wieder zurückgedrängt werden kann, hat NRW bereits im Jahr 2013 eine Landesinitiative „Faire Arbeit - Fairer Wettbewerb“ gestartet (vgl. 20.02.2013). Schon damals war der Handlungsbedarf groß: Jeder vierte Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalen war atypisch beschäftigt (siehe 06.02.2013), jeder fünfte hat im Niedriglohnsektor gearbeitet (siehe 05.09.2012). Auch wenn der damalige Arbeitsminister Schneider angesichts der Zustände wohl nicht vom „Mutterland des Prekariats“ gesprochen hat, wie einige Landesunternehmensverbände es ihm indigniert zugeschrieben haben, Anlass genug hätte er gehabt.

 

Trüb - Die Ausgangslage 2012

 

Nach einem von der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH (G.I.B.) 2014 herausgegebenen Arbeitsmarktreport NRW 2014 (siehe 01.07.2014), stellte sich die Situation 2012, also kurz vor Start der Landesinitiative, alles andere als rosig dar. So hatte die atypische Beschäftigung im Zeitraum 2005 bis 2012 in NRW von 1,55 Mio. auf 1,63 Mio. Personen zugenommen. Ihr Anteil an allen abhängigen Kernerwerbstätigen (hier: Arbeiter, Angestellte und Beamte im Haupterwerbsalter von 15 bis unter 65 Jahren, die sich nicht in Bildung oder Ausbildung befinden) lag damit bei 24,4 Prozent. Gegenüber den Vorjahren ist dies sogar ein leichter Rückgang. Zwischen 2007 und 2011 waren regelmäßig über ein Viertel aller Kernerwerbstätigen atypisch beschäftigt. Doch dabei ist die Leiharbeit noch gar nicht mitgezählt worden. Die Autoren der Studie gehen davon aus, dass die Anteile der atypischen Beschäftigung unter Einbezug der Leiharbeit jeweils knapp 2 Prozent höher ausgefallen wären.

 

Ende 2012 umfasste der Niedriglohnsektor in NRW rd. 784.000 sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte. Damit hatte sich ihre Zahl innerhalb der vergangenen zehn Jahre um mehr als 45 Prozent erhöht. Ihr Anteil an allen Kernerwerbstätigen (hier: alle Vollzeitbeschäftigten, die nicht in einem Ausbildungsverhältnis stehen) betrug 18,6 Prozent. Das lag zwar unterhalb der Werte der vorhergehenden sechs Jahre (jew. über 19 %), ursächlich dafür war aber ganz überwiegend ein Sondereffekt, der durch die Umstellung in der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit (geänderte Melderegeln) ausgelöst worden ist.

 

Entwicklung der atypischen Beschäftigung

 

Wie hat sich die Situation in den Jahren nach Start der Landesinitiative entwickelt? Konnte die atypische Beschäftigung in NRW zurückgedrängt werden? Aktuelle Zahlen liefert dafür der ebenfalls von der G.I.B. Ende 2016 herausgegebene Arbeitsmarktreport NRW 2016. Aufgrund neuer Berechnungen (u.a. Einbezug der Leiharbeit) liegen die für 2012 ausgewiesenen Zahlen meist höher als im Report 2014. Die folgenden Aussagen zu den Entwicklungstrends beziehen sich auf die aktualisierten Werte.

 

Zwischen 2012 und 2014 ist die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse (inkl. Leiharbeit) von 1,71 auf 1,68 Millionen gesunken. 2015 stieg ihre Zahl dann wieder auf 1,71 Millionen an. Ihr Anteil an allen abhängig beschäftigten Kernerwerbstätigen sank zunächst ebenfalls von 26,1 Prozent in 2012 auf 25,2 Prozent in 2014, um im Jahr 2015 wieder auf 25,4 Prozent zu steigen. Trotz annähernd gleicher absoluter Zahlen blieb der Anteil geringfügig Beschäftigter also unter den Werten von 2012. Dies liegt zu großen Teilen daran, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten seit 2012 von etwa 4,57 Mio. auf 4,76 Mio. in 2015 kontinuierlich zulegen konnte.

 

 Kernerwerbstätige (in 1.000) nach einzelnen Erwerbsformen in NRW

Entwicklung atypische Beschäftigung NRW
Quelle: IT.NRW, Sonderauswertung des Mikrozensus 2016, nach GIB (2016)

 

Entwicklung des Niedriglohnsektors

 

Nach Aussagen des Arbeitsmarktreports 2014 war sowohl die Anzahl als auch der Anteil der Vollzeit-Niedriglohnbeschäftigten in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2012 leicht rückläufig gewesen. Dagegen lautet die entscheidende Passage im Report 2016: „Seit 2012 ist die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten kontinuierlich gestiegen und lag 2015 6,2 % höher als 2012.“ Die absolute Zahl der in Vollzeit Niedriglohnbeschäftigten stieg dabei von 763.000 im Jahr 2012 auf 810.000 Ende 2015. Der Anteil der Vollzeit-Niedriglöhner an den Vollzeit-Kernerwerbstätigen stieg in diesem Zeitraum von 18,4 auf 19,0 Prozent.

 

Die der Berechnung zugrunde gelegte westdeutsche Niedriglohnschwelle für Vollzeitbeschäftigte lag 2015 übrigens bei einem Bruttomonatslohn von 2.146 Euro, was bei einer 40-Stunden-Woche rechnerisch einem Stundenlohn von 12,38 Euro entspricht. Da liegt es auf der Hand, dass der 2015 eingeführte gesetzliche Mindestlohn von damals 8,50 Euro (abgesehen von evtl. Spillover-Effekten) den Niedriglohnsektor nicht positiv beeinflussen konnte.

 

Fazit: Viel Rauch um nichts

 

Trotz insgesamt wieder anziehender Beschäftigung sind bei der Qualität der Arbeit in NRW in den vergangenen Jahren keine Fortschritte erzielt worden. Es gab kaum Rückgänge bei der atypischen Beschäftigung, und dies bei einem kontinuierlich sich ausweitenden Niedriglohnsektor. Hinzu kommt: Im Vergleich zur Entwicklung auf Bundesebene (siehe 21.07.2016) sind keine auffälligen positiven Abweichungen erkennbar. Der Anteil der atypischen Beschäftigung liegt mit 25,4 Prozent immer noch klar über dem Bundeswert von 20,8 Prozent. Wenn die Entwicklung in NRW also (auf stets höherem Niveau) mehr oder weniger deutlich dem Bundestrend folgt, so muss sich das Arbeitsministerium fragen, welche positiven Effekte seine Landesinitiative eigentlich hat auslösen können. Eine Antwort steht bereits jetzt fest: NRW ist auch weiterhin alles andere als ein Land der fairen Arbeit.

 

Handelt es sich also nur um Schaufensterpolitik der Sozialdemokratie, um die Wählerschaft in einem so wichtigen Bundesland gewogen zu halten? Der Fairness halber muss dazu gesagt werden, dass die Bundesländer auf die (strukturelle) Entwicklung der Qualität der Jobangebote auf dem Arbeitsmarkt vergleichsweise wenig Einfluss nehmen können. Die entscheidenden arbeitsmarktpolitischen Instrumente liegen in der Hand der Bundesregierung. Sie könnte durch entschlossenes Drehen an den relevanten Stellschrauben atypische und Niedriglohnbeschäftigung signifikant zurückdrängen. Doch das ist politisch nicht gewollt. Und da hilft auch keine noch so schöne Landesinitiative.

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Quellen:

G.I.B. - Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH (Hg.) (2016): Arbeitsmarktreport NRW 2016 - Themenbericht: Struktur und Entwicklung der Beschäftigung mit dem Schwerpunkt atypische und Niedriglohnbeschäftigung, Bottrop.

 

G.I.B. - Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH (Hg.) (2014): Arbeitsmarktreport NRW 2014 - Sonderbericht: Struktur und Entwicklung der Beschäftigung mit dem Schwerpunkt: atypische und Niedriglohnbeschäftigung, Bottrop.

 

Weiterlesen:

 

- DESTATIS: Atypische Beschäftigung - Kernerwerbstätige nach einzelnen Erwerbsformen.

 

- WSI-Datenbank „Atypische Beschäftigung“.

 

- MAIS -Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes NRW (Hg.) (2017): Tarifspiegel 2016. Tarifliche Grundvergütungen bis 10 € je Stunde in NRW, Düsseldorf.

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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