Mindestlohn Lohnuntergrenze

 

MINDESTLÖHNE:

 

04/02/2016:

Der Mindestlohn als Jobkiller – ein Fall von Self-fulfilling Prophecy?

(von Markus Krüsemann)

 

Die Wirkung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns ist seit seiner Einführung entgegen zahlreicher Negativprognosen eine positive. Doch schon im Vorfeld hat der Mindestlohn für Anpassungsreaktionen bei Unternehmen gesorgt. Dazu sollen nach einer neuen Analyse aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auch Entscheidungen zahlreicher Betriebe zählen, Arbeitsplätze abzubauen, weil sich der Mindestlohn (auch laut Vorhersage einflussreicher Ökonomen) 2015 negativ auf die Beschäftigung auswirken wird. Jobverluste aufgrund negativer Beschäftigungserwartungen - eine selbsterfüllende Prophezeiung?

 

Mindestlohneinführung verlief erfolgreich

 

Die Debatte im Vorfeld zur Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns war medial vor allem von der Frage dominiert, welche Beschäftigungswirkung vom Mindestlohn ausgehen könnte. Vor allem die Gegner einer Lohnuntergrenze (vom Sachverständigenrat über die Deutsche Bank bis hin zu diversen arbeitgebernahen Forschungsinstituten und Lobbyorganisationen) hatten sich in Stellung gebracht und überboten sich mit Horrorprognosen über die Zahl von der Vernichtung anheim fallenden Arbeitsplätzen. Befürworter des Mindestlohns hatten es deutlich schwerer, ihre Argumente an den Mann und die Frau zu bringen, zumal selbst unter wohlwollenden Analysten von einem Experiment mit ungewissem Ausgang die Rede war. Folglich dominierte noch bis kurz vor Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes der Tenor vom Mindestlohn als Jobkiller – und viele starrten beim Start der Lohnuntergrenze zu Jahresbeginn 2015 auf dieses Diktum wie das Kaninchen auf die Schlange.

 

Wie sich mittlerweile herumgesprochen haben dürfte, ist es ganz anders gekommen. Zahlreiche Beschäftigte haben mehr Geld in der Tasche, der private Konsum zieht an, und nicht Jobverluste, sondern ein fortgesetzter Beschäftigungsaufbau prägt das Bild am Arbeitsmarkt. Schaut man genauer hin, so muss zwar festgehalten werden, dass es Verluste bei den Minijobs (siehe 11.01.2016) gab. Doch auch hier sind nicht alle Stellen einfach weggefallen, ein großer Teil wurde vielmehr in sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung umgewandelt: Laut eines aktuellen Forschungsberichts des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB 2016) kann etwas mehr als die Hälfte des Rückgangs bei den Minijobs dadurch erklärt werden, dass die betroffenen Personen direkt in eine ausschließlich sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wechselten.

 

Der Mindestlohn hat schon vor seiner Einführung Wirkung entfaltet

 

Soweit zu den bisher beobachtbaren Wirkungen des Mindestlohns. Warum aber verlief die Einführung des Mindestlohns so offensichtlich problemlos? Abgesehen von konjunkturellen Effekten lassen sich dafür auch strukturelle Ursachen benennen (siehe 09.07.2015). Unter anderem zeigte sich, dass der Mindestlohn bereits im Vorfeld der Einführung Wirkung entfalten konnte. Eine andere Studie des IAB (Kubis u.a. 2015) hat ergeben, dass schon im Jahr 2014 auffällig viele Betriebe den Mindestlohn bei Neueinstellungen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung quasi vorweg genommen haben. Bei bundesweit 4,5 Prozent der Neueinstellungen im Jahr 2014 hatte der vereinbarte Stundenlohn exakt 8,50 Euro betragen. Das bedeutet, viele Arbeitgeber haben bereits im Vorfeld der Mindestlohneinführung reagiert und ihre Gehaltsstrukturen angepasst.

 

War dies die einzige Wirkung, die der Mindestlohn bereits vor seiner Einführung entfaltet hat? Mario Bossler, Leiter der Arbeitsgruppe Mindestlohn beim IAB, meint nein und verweist anhand einer Datenanalyse darauf, dass der Mindestlohn schon ein Jahr vor seiner Einführung die Erwartungshaltung der Arbeitgeber negativ beeinflusst habe - eine Antizipation mit realen, messbaren Folgen für die Beschäftigung.

 

Der Mindestlohn als Self-fulfilling Prophecy?

 

Gab es also eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wonach Jobverluste eintraten, weil Arbeitgeber schon im Vorfeld glaubten, dass Beschäftigung unweigerlich verloren gehen müsse und sie entsprechend handelten? Damit hätte der Mindestlohn schon vorab allein durch seine Ankündigung negative Beschäftigungseffekte hervorgerufen. Eine steile These.

 

Zu ihrer Bestätigung nutzt Bossler, kurz gesagt, Daten aus dem IAB-Betriebspanel, stellt vom Mindestlohn betroffene Betriebe nicht betroffenen gegenüber und vergleicht deren Erwartungshaltung bezüglich der zukünftigen Beschäftigungsentwicklung. Dabei zeigte sich zunächst, wohl wenig überraschend, dass von der Mindestlohneinführung betroffene Betriebe vor allem ab der zweiten Jahreshälfte 2014 eine vergleichsweise höhere Beschäftigungsunsicherheit offenbarten, eine schwächere Beschäftigungserwartung an den Tag legten und auch in den Lohnkosten häufiger ein aufkommendes Problem sahen.

 

So weit, so gut, so deskriptiv. Denn leider liefert die Untersuchung keine Erklärung für die negative Erwartungshaltung bei den betroffenen Betrieben. Wirklich interessant wäre doch die Beantwortung der Frage, ob die bevorstehende Mindestlohneinführung für sich genommen die obigen Einschätzungen hervorgerufen hat oder ob diese quasi ein Reflex auf das mediale Dauerfeuer darstellten. Es waren ja nicht zuletzt die Wirtschaftsverbände selbst, die ihren Mitgliedern direkt und indirekt die schlimmen, ja katastrophalen Effekte des Mindestlohns für die Beschäftigung im Jahr 2015 intensiv vor Augen führten, um nicht zu sagen suggerierten.

 

Die Prophezeiung hat sich 12.800 mal erfüllt

 

Darüber hinaus hat Bossler aber auch das Ausmaß an Beschäftigungsverlusten, die allein aus der schwächeren Beschäftigungserwartung der betroffenen Arbeitgeber resultieren, zu bestimmen, und das heißt hier: möglichst exakt zu quantifizieren versucht. Ein solcher Versuch kann, wenn überhaupt, nur dann gelingen, wenn man von dem Zusammenhang ausgeht, dass Annahmen zur allgemeinen Beschäftigungsentwicklung eine mitentscheidende Rolle für das Ergreifen betrieblicher Maßnahmen zur Anpassung des Personalstands spielen. Doch ist das plausibel?

 

Ein Unternehmen etwa, dessen Geschäftsmodell auf Niedriglohnbeschäftigung basiert, kann verlässlich damit rechnen, dass seine Billiglöhner in ein paar Monaten teurer werden. Es kann darüber hinaus aber auch – und hier wird es interessant – aufgrund ihm glaubhaft erscheinender Prognosen annehmen, dass sein Absatz oder die Nachfrage nach seinen Leistungen zurückgehen wird, weil bei seinen Kundenunternehmen und Auftragnehmern sehr wahrscheinlich Arbeitsplätze abgebaut werden. Als Reaktion darauf könnte es schon im Vorfeld der Mindestlohneinführung Gelegenheiten nutzen (Vertrag läuft aus, Ruhestand etc.), den Personalstand zu reduzieren, um sich zu wappnen und die vermutet negative Entwicklung erst einmal abzuwarten. Ein Zusammenhang, der zumindest in dem skizzierten Fall durchaus plausibel erscheint. Doch kann man ihn auch beziffern?

 

Machen wir es kurz: Am Ende errechnet der Autor einen Beschäftigungsverlust von annähernd 12.800 Arbeitsplätzen, die nur aufgrund der negativen Erwartungshaltung weggefallen sind. Das klingt dann doch nach Zahlenvoodoo und ist wenig überzeugend. Aber es gibt halt Forschungsbereiche, in denen exakte Zahlen und Messergebnisse ein wichtiges Gütekriterium darstellen, um es freundlich zu formulieren.

 

Fazit

 

Bossler liefert hier ein an sich durchaus interessantes Beispiel für das Wirken von selbsterfüllenden Prophezeiungen, auch wenn der Effekt, betrachtet man das Ergebnis der Messung, in diesem Fall doch eher gering ausfällt. Das deutet natürlich auch darauf hin, dass der angenommene Zusammenhang zwischen allgemeinen Beschäftigungserwartungen und eigenen Personalanpassungsmaßnahmen wohl doch nicht so eng ist oder zumindest einer stärkeren theoretischen Begründung bedarf. Den Nachweis eines echten Kausalzusammenhangs jedenfalls bleibt die Studie schuldig. Die prinzipielle Wirkung solcher Prophezeiungen aber wird anschaulich: es reicht, wenn ein Zukunftsszenario (hier: Mindestlohn als Jobkiller) als real eintretend prominent verkündet wird, um reale Konsequenzen (hier: Personalabbau) hervorzurufen.

 

Welche Prophezeiungen für die beschlossenen Personalreduktionen aber wirkmächtig waren, aus welcher Feder sie stammten und über welche Kanäle sie den Weg ins Ohr der ihnen lauschenden Betriebe fanden, darüber kann die Studie keine Auskunft geben. Das aber wäre sehr viel interessanter zu erfahren, als eine abstrakte Zahl von 12.800 Jobverlusten als Messergebnis zur Kenntnis zu nehmen. Am Ende könnte dabei nämlich das für die Verbreiter der Jobkiller-These unangenehme Ergebnis herauskommen, dass gerade sie mit ihren Negativprognosen für Arbeitsplatzverluste verantwortlich waren. Man hat sie halt in den Betrieben beim Wort genommen.

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Quellen:

Bossler, M. (2016): Employment expectations and uncertainties ahead of the new German minimum wage. IAB-Discussion Paper, Nr. 03/2016, Nürnberg.

 

IAB - Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Hg.) (2016): Arbeitsmarktspiegel - Entwicklungen nach Einführung des Mindestlohns (Ausgabe1), Kurzfassung des Forschungsberichts 1/2016, Nürnberg.

 

Kubis, A./ Rebien, M./ Weber, E. (2015): Mindestlohn spielt schon im Vorfeld eine Rolle. IAB-Kurzbericht, Nr. 12/2015, Nürnberg.

 

Weiterlesen:

 

- Merton, R. K. (1948): The Self-Fulfilling Prophecy. In: The Antioch Review, Vol. 8, No. 2, pp.193-210.

 

- Bellmann, L./ Bossler, M. u.a. (2015): IAB-Betriebspanel - Reichweite des Mindestlohns in deutschen Betrieben. IAB Kurzbericht, Nr. 06/2015, Nürnberg.

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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