Mindestlohnplus 2020

 

MINDESTLOHN:

 

01/01/2020:

Bloß nicht zuviel? Der Mindestlohn steigt weiter in Trippelschritten

(von Markus Krüsemann)

 

Auf den Mindestlohn wurden wieder nur ein paar Cent draufgelegt. Wenn seine Anpassung im bisherigen Tempo weitergeht, dauert es viel zu lange, bis die immer lauter werdende Forderung nach 12 Euro Mindestlohn erfüllt ist. Die Regierungskoalition wird daher um eine politische Lösung des Problems nicht herumkommen.

 

Fünf Jahre ist er gerade alt geworden, zwei Mal wurde er bereits angehoben, und jetzt ist er wieder ein wenig gestiegen, genauer gesagt um überschaubare 16 Cent: Der allgemeine gesetzliche Mindestlohn liegt ab heute bei 9,35 Euro. Bei einer 40-Stunden-Woche kommen abhängig Beschäftigte damit auf einen Bruttomonatslohn von ungefähr 1.620 Euro, womit sie sich nicht nur im Niedriglohnsektor, sondern - logischerweise - dort ganz unten, im untersten Einkommensdezil aller Vollzeitkräfte wiederfinden, dessen Schwelle laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit Ende Dezember 2018 bei 1.822 Euro gelegen hat.

 

Eine Lohnsteigerung von 1,7 Prozent binnen eines Jahres wird vermutlich gerade so reichen, um wenigstens den Anstieg der Verbraucherpreise im Jahr 2019 zu kompensieren. Das aber ist zu wenig, und so wird sich die oft prekäre Einkommens- und Lebenssituation in den vom Mindestlohn betroffenen Haushalten weiter verschärfen, man denke nur an die nicht nur in Großstadtregionen enorme Belastung durch auch 2020 steigende Wohnkosten, die den eh schon engen finanziellen Spielraum weiter verringern. Im Bundesland Bremen etwa muss fast ein Drittel aller Haushalte inzwischen mehr als 40 Prozent des zur Verfügung stehenden Einkommens für Warmmiete und Strom ausgeben, um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen.

 

Zwar beruht ein Teil der Geringverdienerproblematik darauf, dass viele abhängig Beschäftigte (nicht immer freiwillig) nur zu einem Volumen unterhalb der Vollzeit (in Teilzeit- und Minijobs) arbeiten. Trotzdem ist die immer noch viel zu geringe Höhe des Mindestlohns mit verantwortlich dafür, dass ArbeitnehmerInnen nicht ausreichend vor Erwerbsarmut geschützt werden, von der Altersarmut dank viel zu spärlicher Rentenbeitragszahlungen ganz zu schweigen. Bisher hat der Mindestlohn „nur wenige Menschen aus der sozialen Bedürftigkeit geholt", resümierte denn auch IAB-Mindestlohnforscher Mario Bossler zum Jahresende 2018 gegenüber Zeit online. Sowohl die Zahl der Menschen, die von Armut gefährdet sind, als auch die Zahl der Beschäftigten, die ihr Gehalt mit Hartz IV aufstocken müssen, sei kaum gesunken. Heute, ein Jahr später, hat dieser Befund noch uneingeschränkte Gültigkeit, auch wenn das Thema in der aktuellen IAB-Bilanz nicht mehr aufgegriffen wird.

 

Per Rechenschieber den Tariflöhnen hinterherhinken?

 

Schuld an dieser Situation ist neben der politisch damals eher willkürlich gesetzten geringen Einstiegshöhe beim Mindestlohn von 8,50 Euro vor allem das Verfahren seiner fortlaufenen Anpassung, das der Gesetzgeber in die Hände einer eigens eingerichteten Mindestlohnkommission gelegt hat. Diese soll sich bei der Festsetzung von Mindestlohnhöhen nachlaufend an der Tarifentwicklung orientieren (§ 9 MiLoG). Als Berechnungsgrundlage wird dabei die Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes (ohne Sonderzahlungen) auf Basis der Stundenverdienste in den vorhergehenden Kalenderjahren herangezogen. Das bedeutet, vereinfacht gesagt, der Mindestlohn steigt immer nur nachträglich und immer nur in dem Maße, in dem auch die Tarifgehälter zuvor gestiegen sind. Mit anderen Worten: das von Anfang an zu niedrige Mindestlohnniveau wird stets fortgeschrieben. Zwar ist prinzipiell eine Abweichung von dieser Vorgehensweise möglich (nach oben wie nach unten), die ist faktisch aber nahezu ausgeschlossen, denn es bedarf dazu einer zwei Drittel Mehrheit unter den sechs stimmberechtigten Kommissionsmitgliedern, von denen jeweils drei die Arbeitgeber- respektive die Gewerkschaftsinteressen vertreten, was auf ein Stimmen-Patt hinausläuft.

 

So gesehen darf sich niemand wundern, dass die Kommission nach fünf Jahren nicht mehr als eine Anhebung von 85 Cent zustande gebracht hat. Das ist natürlich viel zu wenig, und wenn es im gleichen Tempo weitergeht, dann führt das zu nichts anderem als einer dauerhaften Fortschreibung des von Beginn an zu niedrigen Mindestlohnniveaus. Damit wird es auch nie gelingen, den Abstand der Lohnuntergrenze zu den übergeordneten Entgeltniveaus zu verkürzen.

 

Zudem „vergrößert der Mechanismus die Lücke zwischen Besser- und Schlechtverdienern“, wie FR-Kommentator Daniel Baumann bereits 2018 angemerkt hat. Baumann verweist darauf, dass sich selbst bei einer gleichstarken Anhebung von unterschiedlichen Entgeltniveaus die absolute Lohnlücke zwischen ihnen vergrößert. Zur Veranschaulichung des Problems reicht ein einfaches Rechenbeispiel. Gesetzt den Fall, der Mindestlohn und unterschiedliche Tariflöhne würden zukünftig Jahr für Jahr nominal um zwei Prozent steigen, so haben Besserverdienende am Ende deutlich mehr in der Tasche als die Schlechtverdienenden. Ein Beschäftigter, der im Jahr 2020 zum Mindestlohn gearbeitet hat, würde im Jahr 2030 gerade einmal 2,04 Euro pro Stunde mehr verdienen. Sein Kollege mit einem Stundenlohn von 30 Euro in 2020 dürfte sich dagegen über ein Plus von 6,57 Euro freuen. Dies kommt einem Auseinanderdriften der (absoluten) Kaufkraft gleich.

 

Fiktives Nominallohnplus (in €) für drei Lohngruppen bei einer jährlichen

Lohnsteigerung von zwei Prozent

Nominallohnplus für drei Lohngrupppen bei jährlicher Lohnerhöhung von zwei Prozent

 

Auch wenn der Mindestlohn dämpfend auf die Lohnspreizung im unteren Einkommensbereich gewirkt hat, müsste das Lohngefüge insgesamt weitaus stärker komprimiert werden, um die seit Jahren anhaltend hohe Polarisierung der Lohneinkommen zurückzudrängen. Das gelingt am effektivsten, indem man die Entgelte in den unteren Lohnsegmenten stärker anhebt. Von Seiten der Gewerkschaften wird das in zahlreichen Tarifverhandlungen in unterschiedlichen Branchen bereits praktiziert. Hier muss auch der Mindestlohn noch nachlegen, zumal die Geringverdienenden auch deshalb ein deutlich stärkeres Lohnplus benötigen, damit sie endlich mal effektiver vor Erwerbs- und Altersarmut geschützt werden und ihnen der entwürdigende Gang zum Jobcenter zwecks Erhalt von aufstockenden Leistungen häufiger erspart bleiben kann.

 

Wann kommen zwölf Euro Mindestlohn?

 

Die ursprünglich von der Linkspartei erhobene Forderung nach einer schnellen und deutlichen Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro haben sich mittlerweile nicht nur die Grünen, sondern auch die SPD und Teile der CDU zu eigen gemacht. Über den Zeitpunkt der Zielerreichung und über den Weg dahin herrscht aber Uneinigkeit. Allen Beteiligten aber ist klar: Sollte es in Zukunft zu keiner Änderung im Verfahren der Mindestlohnfestsetzung kommen, so würde es bei einer angenommenen jährlichen Anhebung des Mindestlohns um jeweils 2,5 Prozent (nominal) bis ins Jahr 2031 dauern, um die Marke von zwölf Euro zu überschreiten, die zu Preisen des Jahres 2031 natürlich deutlich weniger wert sind als heute.

 

Selbst unter Absehung der Tatsache, dass mit dem derzeitigen Verfahren nie ein existenzsichernder Mindestlohn erreicht werden kann, mutet die Zeitspanne so absurd an, dass sich die Regierungsparteien Gedanken über eine Alternative machen müssen. Prinzipiell kämen dabei zwei Wege zur Zwölf in Frage. Die Koalition könnte eine einmalige oder schrittweise Aufstockung auf politischem Wege beschließen und damit das Prozedere der Mindestlohnkommission temporär übergehen, oder sie reformiert die Geschäftsgrundlage der Kommission. Eine denkbare Änderung könnte darauf hinauslaufen, dass höhere Lohnsteigerungen auch ohne 2/3-Mehrheit unter den stimmberechtigten Mitgliedern möglich werden.

 

Ob sich für eine politische Lohnsetzung an der Kommission vorbei eine Mehrheit finden wird, darf bezweifelt werden. Während die Arbeitgeber dagegen bereits mit Vorwürfen einer Entmachtung der Kommission Front machen und schon die Axt herbeireden, die damit an die Sozialpartnerschaft gelegt werde, ist auch auf Seiten der Gewerkschaften nicht klar, wie stark die Unterstützung aus ihren Reihen ausfallen würde - auch wenn ver.di-Chef Werneke sich bereits eindeutig positiv dazu positioniert hat. Schließlich würden mit einem Mindestlohn von zwölf Euro auf einen Schlag tarifvertragliche Lohnregelungen in Branchen mit niedrigem Lohnniveau obsolet werden. Anfang des Jahres 2019 lagen immerhin 21 Prozent der Tariflohngruppen unter dieser Zielmarke.

 

Bliebe also eine Überarbeitung der Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission. Nicht nur auf Seiten der SPD hat sich schon reichlich Parteiprominenz dafür stark gemacht. Auch die CDU ist willig, wobei sich der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Karl-Josef Laumann, besonders weit aus dem Fenster gelehnt hat. Die Kommisssion habe „einen schlechten Job gemacht“, da sie sich in den vergangenen Jahren bei der Neufestsetzung des Mindestlohns immer nur streng an der allgemeinen Lohnentwicklung orientiert habe, zeigte er sich enttäuscht. Dies kann man zwar getrost als neuerliche Variante des beliebten „Haltet den Dieb“-Tricks verbuchen, hat doch die Politik der Kommission gerade das ins Auftragsbuch geschrieben. Trotzdem ist es eine klare Bestätigung des CDU-Parteitagsbeschlusses, demzufolge die Mindestlohnkommission eine neue Geschäftsordnung bekommen soll. Da passt es nur zu gut, dass für dieses Jahr sowieso die Evaluation des Mindestlohngesetzes ansteht.

 

Somit scheint es nur noch eine Frage der Zeit sein, wann der Mindestlohn eine Abkürzung auf dem Weg zur Zwölf-Euro-Marke nimmt. Nur: Sollte er irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft dort ankommen, so wird er eines auch dann wieder nicht sein, existenzsichernd. Letzten Berechnungen aus dem Jahr 2018 zufolge müsste die Untergrenze schon heute bei mindestens 12,63 Euro liegen. Und damit wäre auch nur sichergestellt, dass Alleinstehende nach 45 Jahren Vollzeitbeschäftigung (38,5 Std./Woche) eine Nettorente oberhalb des aktuellen Grundsicherungsniveaus erhalten würden.

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Quellen:

Bispinck, R. (2019): Drei Schritte zu einem armutsfesten Mindestlohn. In: Gegenblende, Beitrag vom 08.11.2019.

 

Bispinck, R./ Schulten, T. (2019): Tarifpolitik und Mindestlohn - Erfahrungen und Perspektiven. Vortrag auf der WSI-Tariftagung 2019 am 12./13. Dezember 2019.

 

Bundesagentur für Arbeit (2019): Methodenbericht: Beschäftigte mit geringen Entgelten, November 2019, Nürnberg.

 

„Das Zwölf-Euro-Problem“, neues deutschland online vom 23.11.2019.

 

„Ein paar Cent mehr, immer noch unwürdig“, Frankfurter Rundschau online vom 26.06.2018.

 

„Mindestlohn: Wem hat's geholfen?“, Zeit online vom 28.12.2018.

 

Weiterlesen:

 

- Börschlein, B./ Bossler, M. (2019): Eine Bilanz nach fünf Jahren gesetzlicher Mindestlohn: Positive Lohneffekte, kaum Beschäftigungseffekte. IAB-Kurzbericht, Nr. 24/2019, Nürnberg.

 

- Fedorets, A./ Grabka, M. M./ Schröder, C. (2019): Mindestlohn: Nach wie vor erhalten ihn viele anspruchsberechtigte Beschäftigte nicht. In: DIW Wochenbericht, Jg., Nr. 28, S. 484 - 491.

 

- "Ist ein Mindestlohn von zwölf Euro sinnvoll?", Zeit online vom 27.12.2019.

 

- Schulten, T./ Lübker, M. (2019): WSI-Mindestlohnbericht 2019: Zeit für kräftige Lohnzuwächse und eine europäische Mindestlohnpolitik. WSI-Report, Nr. 46 (Februar), Düsseldorf.

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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