WORKING POOR:

 

14/11/2017:

Fast jede/r Zehnte von Erwerbsarmut betroffen. Und nun?

(von Markus Krüsemann)

 

Daten aus dem Europäischen Statistikamt zeigen, dass seit drei Jahren in Folge fast jede/r zehnte Erwerbstätige trotz Arbeit von Armut bedroht ist. Über die Ursachen dieser Entwicklung herrscht weitgehend Klarheit. Wenn eine gegensteuernde Arbeitsmarktpolitik aber weiterhin ausbleibt, was bedeutet das für den generellen Stellenwert von Arbeit?

 

Verfluchte Arbeit. Als Lohnarbeit ist sie das gesellschaftliche Nadelöhr, durch das die große Masse hindurch muss, um sich am Leben zu erhalten, sich zu reproduzieren, wie es früher, als Marx noch gelesen wurde, hieß. Mal abgesehen von den Tücken des abgepressten Mehrwerts könnte man sich schicksalsergeben in die entfremdende Maloche fügen - wären da nicht jene Erwerbsarbeiten, mit denen man auf Grund eines zu geringen Umfangs oder zu schlechter Entlohnung (nicht selten ist auch beides der Fall) die eigene Existenz oder die der Lebensgemeinschaft, in der man sich befindet, nicht sichern kann. Spätestens wenn trotz Arbeit die Armut droht, hilft die arbeitsethisch aufgeladene Fügsamkeit nicht mehr weiter. Fängt die Legitimationsbasis der Arbeitsgesellschaft an zu bröckeln?

 

Von Arbeits- oder Erwerbsarmut wird nach der heute allgemein üblichen Definition dann gesprochen, wenn (vereinfacht gesagt) eine erwerbstätige Person in einem Haushalt lebt, dessen verfügbares Einkommen weniger als 50 Prozent des Medianeinkommens (des mittleren Einkommens) aller Haushalte beträgt. Allgemein gilt als armutsgefährdet, wer einschließlich staatlicher Transfers weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erzielt. Für die exakte Berechnung von Armutsgefährdungsquoten wird auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens für jedes Haushaltsmitglied ein bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen ermittelt, das sog. Äquivalenzeinkommen. Am Ende kommen je nach Haushaltssituation unterschiedliche Armutsschwellen zustande. So lag die Schwelle zur Armutsgefährdung (nach Ergebnissen des Mikrozensus) für Alleinstehende im Jahr 2016 bei 969 Euro, bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren hingegen bei 2.035 Euro im Monat (netto).

 

Gefahr der Erwerbsarmut deutlich gestiegen

 

Doch zurück zu den armutsgefährdeten Erwerbstätigen. Nach den seit kurzem bis zum Jahr 2016 vorliegenden Daten aus der „Europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen“ (EU-SILC) ist die Armutsgefährdungsquote von Erwerbstätigen in Deutschland zwischen 2008 und 2016 um 2,4 Prozentpunkte auf 9,5 Prozent gestiegen. Damit ist in den vergangen drei Jahren fast jede/r zehnte Erwerbstätige in Deutschland von Armut bedroht gewesen. Zwischen 2007 und 2015 hatten unter den EU Mitgliedsländern laut EU-SILC übrigens nur Estland und Bulgarien höhere Steigerungsraten aufzuweisen.

 

 Armutsgefährdungsquoten von Erwerbstätigen (in Prozent gemessen am Bundesmedian)

Entwicklung der Erwerbsarmut in Deutschand
Quellen: Statist. Bundesamt, Mikrozensus und EU-SILC

 

Auch die Statistiker beim Statistischen Bundesamt haben die Anteile armutsgefährdeter Menschen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen bestimmt. Für die Gruppe der Erwerbstätigen weisen sie für 2016 einen Anteil von 7,6 Prozent Armutsbedrohten aus, ein Wert der deutlich unter den Zahlen der EU-Statistik liegt. Die unterschiedlichen Werte erklären sich im Wesentlichen aus den voneinander abweichenden Messverfahren. Zwar wird in beiden Fällen die 60-Prozentschwelle (60 % vom nationalen Median des Äquivalenzeinkommens eines Haushalts nach Sozialleistungen) zu Grunde gelegt, doch werden bei EU-SILC nur jene Personen im Alter von 16 bis 64 Jahren als Beschäftigte erfasst, die zumindest in sieben Monaten des jeweiligen Referenzjahres erwerbstätig waren.

 

Jobqualität beeinflusst die Erwerbsarmutsgefährdung

 

Wie die Berliner Zeitung online zu den Zahlen von Eurostat berichtet, ist das Armutsrisiko vor allem bei den Teilzeit- und befristet Beschäftigten sehr hoch. So waren 15,2 Prozent der Teilzeitbeschäftigten und 20,5 befristet Beschäftigten 2016 von Armut bedroht. Dies verweist auf eine der zentralen Ursachen für die Negativentwicklung: die gesunkene Jobqualität. Wenn es zwischen acht und zehn Prozent der Erwerbstätigen nicht gelingt, durch Arbeit ein armutsfestes Haushaltseinkommen zu erzielen, dann liegt dies meist weniger an gestiegenen Lebenshaltungskosten als an der Art der Erwerbstätigkeit. Das signifikante Beschäftigungswachstum der vergangen Jahre wurde von einem wachsenden Anteil an „working poor“ begleitet, weil zu viele Jobs entstanden sind, deren Arbeitsumfang oder Entlohnung (oder beides) zu niedrig ist, um Existenzen zu sichern. Niedriglöhne, atypische Beschäftigung, aber auch eine verfehlte Arbeitsförderungspolitik sind die treibenden Kräfte dieser Entwicklung.

 

- Niedriglöhne:

 

Durch eine angebotsorientierte, auf Verbilligung der Arbeit zielende Arbeitsmarktpolitik ist der Niedriglohnsektor in den vergangenen Jahren gezielt aufgebläht worden. Heute zählt er zu den vorrangigen Treibern von Erwerbsarmut. Nach einer Datenauswertung des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) hatten 22,6 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland im Jahr 2015 für einen Stundenlohn unterhalb der Niedriglohnschwelle gearbeitet. Betroffen waren und sind nicht nur die notorisch schlecht verdienenden MinijobberInnen und die ebenfalls tendenziell schlechter entlohnten Teilzeitkräfte. Bei den Vollzeitjobs sind Niedriglöhne ähnlich weit verbreitet. Laut Entgeltstatistik der Bundesagentur für Arbeit hatte Ende 2016 jede fünfte Vollzeitkraft zu den Geringverdienern gezählt. Das waren über 4,1 Millionen.

 

Vor allem im Dienstleistungssektor finden sich regelrechte Billiglohnbranchen. Einem aktuellen Online-Bericht des Hamburger Abendblatts zufolge sind 70 Prozent der Vollzeitbeschäftigten in der Gastronomie sowie zwei Drittel der Leiharbeiter und der MitarbeiterInnen von Friseursalons und Wäschereien von Niedriglöhnen betroffen. Im Bereich des Gebäudeservices ist es immer noch etwa die Hälfte.

 

- Atypische Beschäftigung:

 

Arbeitsangebote jenseits des Normalarbeitsverhältnisses tragen ebenfalls entscheidend zur Prekarisierung des Erwerbslebens und damit zur Armutsgefährdung bei. Die als atypisch bezeichneten Beschäftigungsformen haben seit 2003 nahezu stetig zugenommen. Damit sind sie für einen Großteil der quantitativ positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt verantwortlich, denn das gern gepriesene Jobwunder beruht vor allen Dingen auf der Zunahme atypischer und damit oft eben auch schlechter bezahlter und prekärer Arbeit (siehe 30.06.2017) - denn neben den Niedriglöhnern haben auch die atypisch Beschäftigten ein deutlich höheres Erwerbsarmutsrisiko.

 

In einem Bericht zur Erwerbsarmut in der EU hat ein Forscherteam der EU-Stiftung Eurofound einen klaren Zusammenhang zwischen der Zunahme atypischer Beschäftigungsformen in den EU-Ländern und den wachsenden Anteilen der von Erwerbsarmut Bedrohten aufgezeigt. Verschärfend kommt hinzu, dass es vor allem die sowieso schon am Arbeitsmarkt Benachteiligten sind, die sich mit atypischen und oft prekären Jobs begnügen müssen. Wissenschaftler am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) konnten bei einer gemeinsamen Betrachtung von Einkommensschichten und Erwerbsformen nachweisen, dass der Beschäftigungsaufbau und der Rückgang der Erwerbslosigkeit für einzelne Einkommensgruppen sehr unterschiedliche Effekte hatten. Während der Arbeitsmarkt für die oberen Einkommensschichten gut bezahlte und gut abgesicherte Jobs bereitstellte, mussten sich Erwerbssuchende und Erwerbstätige der unteren Einkommensschichten überdurchschnittlich oft mit Niedriglohnjobs oder atypischen Beschäftigungsverhältnissen begnügen.

 

- "Fördern und Fordern" verstetigt das Elend

 

Einen nicht unmaßgeblichen Anteil daran, dass prekäre Jobs und Erwerbsarmut florieren, hat ausgerechnet auch die staatliche Arbeitsförderung, die eigentlich dafür sorgen soll, dass Menschen nicht nur der Arbeitslosigkeit entkommen, sondern anschließend auch wieder auf eigenen Beinen stehen können. Stattdessen zeigte sich in einer Analyse von WissenschaftlerInnen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung ein direkter Zusammenhang zwischen Erwerbsarmut und den Maßnahmen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik.

 

Dank der Hartz-Gesetze mit ihren rigiden Zumutbarkeitsregeln und den Sanktionsdrohungen werden die Menschen unter Druck gesetzt und faktisch gezwungen, nahezu jede (auch unqualifizierte und schlecht entlohnte) Arbeit anzunehmen. Diese mit dem Slogan „Fördern und Fordern“ bemäntelte „Hauptsache Arbeit“-Ideologie schickt Erwerbssuchende haufenweise in prekäre Beschäftigung. So wandeln sich arbeitslose arme Haushalte zu erwerbstätigen armen Haushalten.

 

Am Ende entscheidet der Lebenszusammenhang

 

Ob das erzielte Arbeitseinkommen zu einem Leben jenseits der Armut reicht, hängt am Ende vom individuellen Lebenszusammenhang ab, in dem Erwerbstätige sich befinden. Der oben bereits angeführte Verweis auf das Haushaltseinkommen macht deutlich, dass Erwerbsarmut nicht allein Resultat einer schlechten und zu niedrigen Entlohnung sein muss. Genauer gesagt sind es zwei Wege, auf denen Menschen in die Erwerbsarmut geraten: 1. durch ein niedriges Erwerbseinkommen in Verbindung mit (dafür) zu geringen Ressourcen des Gesamthaushalts und 2. durch eine Haushaltskonstellation, in der das gesamte Haushaltseinkommen trotz eines an sich armutsfesten Erwerbseinkommens unterhalb der Armutsgrenze liegt.

 

Auch wenn es entscheidend auf den Haushaltszusammenhang ankommt, mit Niedriglöhnen, Minijobs oder kleiner Teilzeit ist niemand gut beraten. Ein Skandal ist es aber (bei aller Fragwürdigkeit des traditionellen Ein-Ernährer-Modells), dass Haushaltsgemeinschaften eine Existenz unterhalb der Grenze zur Armutsgefährdung führen müssen, obwohl zumindest eine Person in Vollzeit erwerbstätig ist. Der Verweis auf eine dann eben zu niedrige Erwerbsbeteiligung im Haushalt ist allenfalls zynisch und verschleiert die wirklichen Ursachen.

 

Verliert Arbeit ihre Kraft zur Vergesellschaftung?

 

Mit schöner Regelmäßigkeit wird gefragt, ob angesichts der nächsten „Revolution“ (jetzt die digitale) der Gesellschaft die Arbeit ausgehe. Da dies bisher nie der Fall gewesen ist, sollte die Frage eigentlich lauten, welchen Stellenwert Arbeit zukünftig haben soll, wenn dank der technologischen Entwicklung und der damit einhergehenden steigenden Produktivität das Maß an gesellschaftlich notwendiger Arbeit prinzipiell sinken kann, während zugleich das Versprechen auf Wohlstand für alle (mit Arbeit als zentralem Inklusionsmodus) von der Politik immer wieder gebrochen wird. Wenn Arbeit sich immer seltener lohnt, wenn sie nur weiter entwertet wird, statt sie zu reduzieren und klug umzuverteilen, dann verliert sie ihre gesellschaftliche Bindekraft. Gerät sie aber auch in eine Legitimationskrise?

 

„Sie trotteten dahin, sie gingen zum Heiligsten, wo der Deutsche hat, zur Arbeit,“ beobachtete Kurt Tucholsky 1923. Daran hat sich nichts Wesentliches geändert - allen Sabbaticals und „Work Life Balance“-Fantasien zum Trotz. Dass der gerade in Deutschland so stark ausgeprägte Arbeitsfetisch in naher Zukunft stärker an Boden verliert, darf bezweifelt werden, denn es wird unverdrossen weiter gearbeitet, wenn es sein muss, und es muss immer häufiger sein, auch nach Feierabend im Nebenjob. Gerade jene Erwerbstätige, die noch nicht vollends abgehängt sind, sondern sich in der „Zone der Prekarität“ bewegen, hoffen ja in großer Zahl weiter auf den Aufstieg durch Arbeit. Wie so viele haben sie das neoliberale Mantra verinnerlicht, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Wie es scheint, ist die Arbeitsgesellschaft noch lange nicht am Ende.

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Quellen:

Statistisches Bundesamt (Hg.) (2017): Leben in Europa (EU-SILC) : Einkommen und Lebensbedingungen in Deutschland und der Europäischen Union 2015.

 

"Arm trotz Arbeit: Jeder zehnte Erwerbstätige ist armutsgefährdet", Berliner Zeitung online vom 13.11.2017.

 

Kalina, T./ Weinkopf, C. (2017): Niedriglohnbeschäftigung 2015 – bislang kein Rückgang im Zuge der Mindestlohneinführung. IAQ-Report, Nr. 06/2017, Duisburg.

 

"In der Gastronomie arbeiten 70 Prozent zu Niedriglöhnen", Hamburger Abendblatt online vom 14.11.2017.

 

Eurofound (2017), In-work poverty in the EU, Publications Office of the European Union, Luxembourg.

 

Krause, P./ Franz, C./ Fratzscher, M. (2017): Einkommensschichten und Erwerbsformen seit 1995. DIW Wochenbericht, 84. Jg., Nr. 27, S. 551-563.

 

Spannagel, D./Seikel, D./ Schulze Buschoff, K./ Baumann, H. (2017): Aktivierungspolitik und Erwerbsarmut in Europa und Deutschland. WSI-Report Nr. 36, Juli 2017, Düsseldorf.

 

Weiterlesen:

 

- Tiefensee, A. (2017): Wie lange reicht das Vermögen bei Einkommensausfall? WSI-Verteilungsbericht 2017. WSI-Report, Nr. 37 (November), Düsseldorf.

 

- Lohnentwicklung in Deutschland. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs 18/13614 (Sept. 2017).

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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