Mindestlohn Lohnuntergrenze

 

MINDESTLÖHNE:

 

11/11/2016:

Ausnahmeregel für Langzeitarbeitslose sinnlos und diskriminierend

(von Markus Krüsemann)

 

Mit Einführung des Mindestlohns wurde für neu eingestellte Langzeitarbeitslose eine Ausnahmeregel erlassen. Sie dürfen in den ersten sechs Monaten zu Gehältern unterhalb des Mindestlohns arbeiten. Kürzlich stellte sich heraus, dass die Regel völlig nutzlos ist. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat heute weitere Details dazu bekannt gegeben.

 

Die Regelung, Langzeitarbeitslose (Arbeitssuchende, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind) für die ersten sechs Monate nach Neueinstellung vom Mindestlohn auszunehmen, ist praktisch wirkungslos, darüber hatten diverse Zeitungen bereits im Juni 2016 berichtet. Grundlage für dieses wenig schmeichelhafte Urteil bildete die Veröffentlichung einer vom Arbeitsministerium beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Expertise. Das IAB hatte darin schlicht keine Belege dafür finden können, dass Arbeitgeber aufgrund der Ausnahmeregelung verstärkt Langzeitarbeitslose unter Mindestlohn eingestellt haben (siehe 16.06.2016).

 

Nun hat das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit einen hauseigenen Bericht vorgelegt, der die damaligen Befunde detailliert erläutert. So wird deutlich, dass die Ausnahmeregel nicht nur wirkungslos ist, auch stellt sie weder für die Langzeitarbeitslosen noch für die Vermittlungsagenturen eine attraktives Förderinstrument dar. Stattdessen besteht die Gefahr der Demotivierung und auch Diskriminierung einer sowieso schon benachteiligten Beschäftigtengruppe. Selbst bei Arbeitgebern ist die Regel nicht beliebt. Für sie sind Qualifikation und Arbeitsmotivation entscheidende Einstellungskriterien, nicht aber ein Billiglohn, durch den man sich womöglich auch noch Lohnkonkurrenzdenken in die Belegschaft holt.

 

Statistische Analyse

 

Mittels einer Analyse von Daten aus der Beschäftigungs- und der Arbeitslosenstatistik sowie der Angaben von ca. 14.000 befragten Personen, die nach längerer Arbeitslosigkeit eine Beschäftigung aufgenommen hatten, hat das IAB  versucht, die mögliche Wirkung der Ausnahmeregelung auf die Einstiegslöhne direkt zu testen. Ergebnis: Kein Effekt der Ausnahmeregelung auf die Einstiegslöhne messbar.

 

Anschließend wurde noch geprüft, ob die Ausnahmeregelung nicht doch die Einstellungswahrscheinlichkeit von Langzeitarbeitslosen erhöht. Auch hier lautet der Befund: Kein signifikanter Effekt messbar. Die statistische Analyse zeigte insgesamt also keine messbaren Beschäftigungseffekte.

 

Befragungsergebnisse

 

Eine Befragung von 84 Jobcenter-Mitarbeitern von sechs ausgewählten Job-Centern sowie von neun Experten aus dem politischen Raum offenbarte noch weitere Erkenntnisse. So wird die Lohnsenkungsmöglichkeit als Förderinstrument so gut wie nicht genutzt. Drei von vier Langzeitarbeitslosen ist sie erst gar nicht bekannt, was auch damit zu tun haben dürfte, dass die Vermittler/innen in den Jobcentern lieber andere, passgenauere Förderinstrumente nutzen und keine Notwendigkeit sahen, die Ausnahmeregelung aktiv zu bewerben.

 

Viele Jobcenter-Mitarbeiter/innen halten ein Abweichen vom Mindestlohn auch für möglicherweise kontraproduktiv, dadurch könne die Arbeitsmotivation eingeschränkt oder in der übrigen Belegschaft ein Gefühl der Lohnkonkurrenz geschaffen werden. Auch die Bereitschaft, an einer Lohndiskriminierung für ihre Klientel mitzuwirken und so auch den Mindestlohn auszuhebeln, ist offensichtlich nicht sehr ausgeprägt.

 

Fazit

 

Die Befunde lassen an Klarheit nichts vermissen und nur einen Schluss zu: Die unsinnige und diskriminierende Ausnahme Langzeitarbeitsloser vom Mindestlohn gehört umgehend abgeschafft. Damit dürften wohl auch die immer mal wieder grassierenden Forderungen vom Tisch sein, diese Ausnahmeregelung auf zwölf Monate auszudehnen - es sein denn, es findet sich mal wieder ein willfähriger Experte, der in der Kürze der Ausnahmeperiode die Ursache für die Nichtinanspruchnahme „erkennt“ und jetzt erst recht die Ausdehnung fordert.

 

Womöglich übernehmen diese Aufgabe die Expert/innen des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) in ihrem nächsten Jahresgutachten. In Kenntnis der im Juni 2016 veröffentlichten Befunde zur Wirkungslosigkeit der Ausnahmeregel geben sie sich im aktuellen Jahresgutachten 2016/17 unbeirrt und empfehlen sich so schon mal als Meister in der Formulierung argumentativer Verstiegenheiten:

 

Die Ausnahmen vom Mindestlohn für Langzeitarbeitslose in den ersten sechs
Monaten einer neuen Beschäftigung sind als Versicherungselement sinnvoll. Sie
sollten daher nicht nur erhalten, sondern auf zwölf Monate ausgeweitet werden. Aus
dem Umstand, dass die Ausnahmeregelung bislang nicht stark zur Anwendung
gekommen ist (...), darf nicht gefolgert werden, dass sie in schlechten konjunkturellen
Zeiten nicht zum Rettungsanker für Langzeitarbeitslose werden könnte.
"
(SVR 2016:393)

 

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Quellen:

IAB-Pressemitteilung vom 11.11.2016

 

vom Berge, P./ Klingert, I. u.a. (2016): Mindestlohnausnahme für Langzeitarbeitslose: Wenig wirksam und kaum genutzt. IAB-Kurzbericht, Nr. 23/2016, Nürnberg.

 

SVR - Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2016): Zeit für Reformen. Jahresgutachten 2016/17.

 

Weiterlesen:

 

- Deutscher Bundestag (2016): Unterrichtung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Bericht des IAB „Mindestlohnbegleitforschung - Überprüfung der Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose – Endbericht". Ausschussdrucksache 18(11)687 (Juni 2016), Berlin.

 

- Sell, S. (2016): Die nicht existenten Nicht-Mindestlohn-Langzeitarbeitslosen. Von einer Opfergabe innerhalb der Großen Koalition vor dem Mindestlohngesetz zu einer erwartbar geplatzten Seifenblase. In: Aktuelle Sozialpolitik, Blogeintrag vom 12.05.2016.

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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