PREKARISIERUNG:

 

07/07/2017:

Jobwunder brachte Niedriglöhne, Lohngefälle und Arbeitsarmut

(von Markus Krüsemann)

 

Über die Wirkungen der Hartz-Reformen wird gestritten. Für den starken Beschäftigungsaufbau sind sie nicht verantwortlich, wohl aber dafür, dass der Jobboom das Lohngefälle nicht verringern konnte - auch weil das so genannte Jobwunder den unteren Lohngruppen vermehrt prekäre Jobs, Niedriglöhne und Arbeitsarmut beschert hat.

 

Von den Befürwortern einer neoliberalen Arbeitsmarktpolitik wird gern ein Zusammenhang hergestellt zwischen den Hartz-Reformen der Agenda 2010 und dem seit 2005 spürbar anziehenden wirtschaftlichen Aufschwung sowie der damit zusammenhängenden Belebung am Arbeitsmarkt. Die rot-grünen Arbeitsmarktreformen hätten die Wende gebracht, vor allem die Hartz IV-Reformen könnten als Ursache für das deutsche Jobwunder angesehen werden. Zahlreiche Forschungsbefunde der vergangenen Jahre haben den behaupteten Kausalzusammenhang allerdings immer wieder aufgelöst und in Teilaspekten auch klar widerlegen können. So waren wohl eher der Konjunkturaufschwung und die Flexibilisierung der Arbeitszeiten (Teilzeitboom) für den Beschäftigungsaufbau verantwortlich.

 

Auch Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), verortet die Ursachen für das deutsche Jobwunder ganz woanders. Speziell die Hartz IV-Reform bezeichnet er in diesem Zusammenhang als „weitgehend wirkungslos“. Peter Bofinger, einer der fünf Wirtschaftsweisen, hält die Hartz-Reformen ebenfalls für völlig überschätzt. Der Aufschwung und der Beschäftigungsaufbau hingen eher mit der „Technologieführerschaft auf vielen Gebieten“  zusammen, womit er auf die Stärke der deutschen Exportwirtschaft anspielt. Tatsächlich gilt es heute als weitgehend unstrittig, dass eine steigende Nachfrage aus Schwellenländern nach Maschinen, Autos und sonstigen Produkten "Made in Germany" wesentlich zur konjunkturellen Erholung beigetragen hat.

 

So betrachtet muss es schon verwundern, wenn mit Ulrich Walwei ein Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) heute noch eine Bilanz zum Thema Arbeitsmarkt und Agenda 2010 zieht, in der er in Bezug auf die Wirkung der Agenda-Politik auf die Arbeitsmarktentwicklung insgesamt zu (verhalten) positiven Resultaten gelangt. Für ihn sind die in den Hartz-Gesetzen verkörperten Arbeitsmarkt- und Sozialreformen „ein ernsthafter Kandidat für die Erklärung der stark verbesserten Beschäftigungssituation“.

 

Gibt es also doch einen Wirkungszusammenhang zwischen den Hartz-Reformen und der aktuellen Beschäftigungssituation? Den gibt es, doch schaut der weitaus negativer, ja verheerender aus als Ulrich Walwei und andere es darstellen.

 

Stark verbesserte Beschäftigungssituation? Arbeitsarmut wächst rasant

 

Soviel ist richtig: Rein quantitativ betrachtet hat sich die Lage am Arbeitsmarkt deutlich gebessert. Die Arbeitslosigkeit geht zurück, immer mehr Menschen finden eine Arbeitsstelle. Wie passt es da ins Bild, dass gleichzeitig ein starkes Anwachsen der Erwerbsarmut zu beobachten ist? In einer aktuellen Studie stellen WissenschaftlerInnen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung fest, dass sich der Anteil der von Erwerbsarmut betroffen Beschäftigten zwischen 2004 und 2014 glatt verdoppelt hat.

 

Von Arbeits- oder Erwerbsarmut wird gesprochen, wenn eine erwerbstätige Person in einem Haushalt lebt, dessen verfügbares Einkommen unterhalb der Armutsgrenze (60 % des Medianeinkommens) liegt. 2014 traf dies auf 9,6 Prozent aller Erwerbstätigen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren zu. Schaut man auf die absoluten Zahlen, so ist der Befund noch beunruhigender, da im gleichen Zeitraum ein vergleichsweise kräftiger Beschäftigungsaufbau stattgefunden hat. So sind aus den knapp 1,9 Mio. „working poor“ des Jahres 2004 binnen einer Dekade 4,1 Millionen geworden.

 

Das WSI-Forscherteam nennt vor allem einen Grund, weshalb aus Arbeitslosen viel zu oft erwerbstätige Arme geworden sind: Es gibt einen direkten, belegbaren Zusammenhang zwischen Erwerbsarmut und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, in diesem Fall der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik versuchen Länder wie Deutschland, Arbeitslose so schnell wie möglich wieder in den Arbeitsmarkt zurückzubringen. Dazu wird nicht bei der Nachfrage nach Arbeit, sondern bei den von Erwerbslosigkeit Betroffenen angesetzt. Man weist ihnen die Verantwortung für die Situation zu und setzt sie unter Druck, diese zu ändern. Das geschieht, indem man einerseits den Zugang und die Gewährung von Unterstützungsleistungen während der Arbeitslosigkeit rigide einschränkt und andererseits ihren Bezug unter Sanktionsdrohungen davon abhängig macht, dass Leistungsempfänger jede sich bietende Gelegenheit zur Arbeitsaufnahme nutzen.

 

Es ist nun genau diese, schon vor den Hartz-Reformen verfolgte, durch sie aber quasi auf die Spitze getriebene Form einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, die das Risiko erhöht, trotz Arbeit arm zu sein bzw. zu bleiben. Was KritikerInnen des Hartz-IV-Systems immer schon beklagt haben, erhält hier ein empirisches Fundament: Die „Hauptsache Arbeit“-Ideologie mit ihren rigiden Zumutbarkeitsregeln und den Sanktionsdrohungen setzt die Menschen unter Druck und verbilligt so die Ware Arbeit. Wenn Erwerbslose gezwungen sind, nahezu jede (auch unqualifizierte und schlecht entlohnte) Arbeit anzunehmen, dann werden aus armen Arbeitslosen arme ArbeitnehmerInnen.

 

Der Jobboom der letzten Jahre beruht an sich zwar wenig auf solchen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Die aber geben ihm eine brutale Prägung, indem Erwerbssuchende einfach in prekäre Beschäftigung geschickt worden sind. Ob es nun die zu niedrigen Stundenlöhne sind oder ein zu geringer Arbeitsumfang (Teilzeit, Minijobs) oder gar die Kombination von beidem,der Effekt ist der gleiche, solche Arbeit kann die Existenz allein nicht sichern.

 

Stark verbesserte Beschäftigungssituation? Untere Einkommensbezieher sind abgehängt

 

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der die per Hartz-Reformen angeblich „stark verbesserte“ Beschäftigungssituation kennzeichnet: Die nicht nur in der zunehmenden Arbeitsarmut zum Ausdruck kommende schwache Lohnentwicklung bei den abhängig Beschäftigten hat die schon in den 1990er Jahren wachsende Einkommenspolarisierung trotz des Beschäftigungsaufbaus weiter verfestigt. Heute sind die Einkommen - auch innerhalb der Gruppe der Lohnabhängigen - ungleicher verteilt als vor 20 Jahren.

 

Die zunehmende Spreizung der Einkommen ist bereits mehrfach in letzter Zeit dokumentiert worden. In Bezug auf die ArbeitnehmerInnen hatte zuletzt der DGB Verteilungsbericht 2017 aufgezeigt, dass auch deren Löhne und Gehälter langfristig auseinanderdriften. Gerhard Bosch und Thorsten Kalina vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) haben in ihrer Analyse ebenfalls ein Öffnen der Lohnschere festgestellt. Zwischen 1996 und 2004 sind die Anteile der unteren wie auch der oberen Lohnschichten deutlich angewachsen. Mehr noch, der Prozess der Lohnspreizung ist auch nach 2005 nicht zum Stillstand gekommen.

 

Eine soeben am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erschienen Studie hat noch einmal die Entwicklung der Einkommensverteilung zwischen 1995 und 2015 unter die Lupe genommen. Dabei sind die Wissenschaftler zu interessanten Ergebnissen gekommen, weil sie die Einkommens- und Beschäftigungsentwicklung nach einzelnen Einkommensgruppen differenziert betrachten und dabei Einkommensschichten und Erwerbsformen aufeinander beziehen.

 

Während sie zunächst nur die Befunde von Vorgängerstudien zur generellen Einkommenspolarisierung und einer Zunahme der atypischen Beschäftigung bestätigen, betrachten sie in einem weiteren Schritt, wie sich der Beschäftigungsaufbau in den verschiedenen Erwerbstätigengruppen vollzogen hat. Dabei konnten sie eine auffällige Verschiebungen der Beschäftigungsformen innerhalb der Einkommensgruppen identifizieren. Erwerbstätige und erwerbssuchende Menschen aus den oberen Einkommensschichten haben dank des Jobbooms vermehrt eine reguläre Beschäftigung aufnehmen können. Für die Menschen der unteren Einkommensschichten führte der Beschäftigungsaufbau und der Rückgang der Erwerbslosigkeit hingegen dazu, dass sie sich überdurchschnittlich oft in Niedriglohnjobs oder atypischen Beschäftigungsverhältnissen wiederfanden. Kurz gesagt sind in den „unteren Einkommensschichten Niedriglöhne weiter verbreitet als früher, während reguläre Arbeitsverhältnisse in den oberen Einkommensschichten häufiger sind als vor 20 Jahren.“

 

Fazit: Fortgesetzte Prekarisierung am Arbeitsmarkt

 

Die angeführten aktuellen Studien zeigen erneut, dass nicht alle vom Beschäftigungsboom der letzten Jahre profitieren konnten. Die unteren Einkommens- bzw. Lohnschichten sind klare Verlierer einer den Arbeitsmarkt segmentierenden, ja spaltenden Entwicklung. Während die Gutverdienenden vermehrt in die guten, gut bezahlten und gut abgesicherten Jobs strömen, müssen sich die eh schon am Arbeitsmarkt Benachteiligten überproportional häufig mit oft schlecht bezahlten Stellen jenseits der Normalarbeit begnügen. Für sie brachte das Jobwunder mit seinem zunehmenden Lohngefälle vermehrt miese Jobs, Niedriglöhne und Arbeitsarmut.

 

„Trägt Hartz die Schuld?“, fragt das Handelsblatt anlässlich des Berichts über die erwähnte DIW-Studie. Es wäre unredlich, diese Frage mit einem einfachen Ja zu beantworten. Soviel aber steht fest: Die Hartz-Reformen haben zumindest den Langzeittrend der Arbeitsmarktderegulierung verstärkt und entscheidend zur weiteren Ausbreitung von Niedriglöhnen und zur Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen beigetragen. Steigende Arbeitsarmut und ein gespaltener Arbeitsmarkt mit einer abgehängten Schicht von Geringverdienenden, an denen die konjunkturelle Erholung vorbei geht, sind zwei der unmittelbaren Folgen. Sollte man da wirklich noch von einer stark verbesserten Beschäftigungssituation sprechen?

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Quellen:

- Krause, P./ Franz, C./ Fratzscher, M. (2017): Einkommensschichten und Erwerbsformen seit 1995. DIW Wochenbericht, 84. Jg., Nr. 27, S. 551-563.

 

- Spannagel, D./Seikel, D./ Schulze Buschoff, K./ Baumann, H. (2017): Aktivierungspolitik und Erwerbsarmut in Europa und Deutschland. WSI-Report Nr. 36, Juli 2017.

 

- Walwei, U. (2017): Agenda 2010 und Arbeitsmarkt: Eine Bilanz. Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 26, vom 26.06.2017.

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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