Mindestlohn Lohnuntergrenze

 

MINDESTLÖHNE:

 

06/12/2017:

Millionen Beschäftigten wird der Mindestlohn vorenthalten

(von Markus Krüsemann)

 

Beschäftigung unterhalb des Mindestlohns ist dank vieler gesetzlicher Ausnahmeregelungen und großzügiger Übergangsfristen immer noch weit verbreitet. Hinzu kommen illegale Umgehungspraktiken. Sie sorgen mit dafür, dass die Zahl der Menschen, denen der Mindestlohn vorenthalten wird, weiterhin deutlich höher ist als offiziell verlautbart.

 

Die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns Anfang 2015 hatte zum Ziel, den ausufernden Niedriglohnsektor dadurch ein wenig zu begrenzen, dass eine Haltelinie nach unten eingezogen wurde. Fortan sollten abhängig Beschäftigte, wenn sie denn schon zu Niedriglöhnen arbeiten müssen (2015 lag die Niedriglohnschwelle bei 10,22 € ), zumindest nicht weniger als 8,50 (seit 2017: 8,84) Euro pro Stunde verdienen. Dank der weit gefassten, bis heute gültigen Ausnahmeregelungen und dank sehr großzügig gehandhabter Übergangsfristen war es allerdings nicht schlagartig vorbei mit Stundenlöhnen diesseits von 8,50 Euro. Auch im ersten Jahr mit Mindestlohn gab es noch Millionen von abhängig Beschäftigten, die zu Löhnen unterhalb des Mindestlohns gearbeitet haben. Neben den legalen Schlupflöchern spielen aber auch Tricksereien bei der Arbeitszeiterfassung eine wichtige Rolle, wie diesbezügliche ArbeitnehmerInnenbefragungen ergeben haben.

 

Auch 2016 wurde noch Millionen Beschäftigten der Mindestlohn vorenthalten

 

Bei der Berechnung der Zahl an Beschäftigten, die immer noch weniger als den Mindestlohn verdienen, kommen unterschiedliche Varianten zum Ansatz, die zu entsprechend verschiedenen Ergebnissen führen. Interessant sind hierbei die Abweichungen in Befragungen, die anhand einer Erhebung der Arbeitszeiten erfolgen. So lassen sich die Stundenlöhne einerseits auf Basis der Angaben der Befragten zu ihrer vertraglichen Arbeitszeit berechnen, zum anderen können aber auch die Angaben zu ihrer tatsächlichen Arbeitszeit herangezogen werden. Je nach Vorgehen unterscheiden sich die Ergebnisse deutlich. Eine Auswertung von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) durch WissenschaftlerInnen des Instituts Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg-Essen (IAQ) vom August 2017 hatte ergeben, dass unter Berücksichtigung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten der Anteil der Beschäftigten mit Bruttostundenlöhnen unterhalb von 8,50 Euro im ersten Jahr mit Mindestlohn gegenüber dem Vorjahr (2014) von 11,9 auf 9,8 Prozent gesunken ist. Damit wäre 2015 noch etwa 3,3 Mio. ArbeitnehmerInnen der Mindestlohn vorenthalten worden. Legt man indes die tatsächlich geleistete Arbeitszeit zu Grunde, so erhöht sich die Zahl auf 4,3 Mio. Beschäftigte, was einem Anteil von 12,6 Prozent entspräche.

 

Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben jetzt aktuellere Ergebnisse auf Basis der gleichen Datengrundlage (SOEP) vorgelegt. Beruhten die Zahlen des IAQ noch auf Daten, die in den ersten Monaten des Jahres 2015 erhoben wurden, so deckt die DIW-Auswertung einen Zeitraum bis ins erste Halbjahr 2016 ab. Den Analysen zufolge galt im ersten Halbjahr 2016 bei immer noch etwa 1,8 Mio. Beschäftigten ein vertraglich vereinbarter Stundenlohn unterhalb von 8,50 Euro, was einem Anteil von sieben Prozent aller Anspruchsberechtigten entsprochen hat. Direkt nach Einführung des Mindestlohns hatte sich die Zahl der Betroffenen noch auf ca. 2,1 Mio. belaufen. Auch hier erhöhen sich die Zahlen deutlich, wenn man statt der vertraglich vereinbarten die tatsächlich geleistete Arbeitszeit zu Grunde legt. Dann nämlich hätten zu Beginn des Jahres 2015 noch 2,8 Millionen (rund 11 %) faktisch zu Stundenlöhnen von weniger als 8,50 Euro gearbeitet. Für 2016 wären es dann statt 1,8 ungefähr 2,6 Millionen gewesen, denen der berechtigte Anspruch auf den Mindestlohn verwehrt worden ist. Rechnerisch wäre das jede/r Zehnte gewesen.

 

Wie Süddeutsche.de dazu berichtet, liegen die Zahlen des DIW deutlich über den offiziellen Angaben der Mindestlohnkommission, die von der Bundesregierung eingesetzt wurde. Die geht für 2015 von „nur“ 1,4 Millionen Beschäftigten aus, die weniger als den Mindestlohn verdienten. Dabei beruft sie sich auf Ergebnisse der Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamt. Deren Daten beruhen auf Angaben aus den Lohnbuchhaltungen der Betriebe. Und weil die Kommission diese Angaben der Arbeitgeber für verlässlicher hält als die Selbstauskünfte der Beschäftigten, werden die aktuellen Befunde zwar zur Kenntnis genommen, jedoch nicht zur Grundlage für politische Bewertungen und Entscheidungen erhoben.

 

Tricksereien (nicht nur) bei der Arbeitszeit

 

Auch wenn die oben vorgestellten Zahlen nur auf Schätzungen beruhen und mit Messfehlern behaftet sind, so ist der Befund eindeutig. Es sind immer noch viel zu viele Menschen, die für einen effektiven Stundenlohn unterhalb der gesetzlichen Lohnuntergrenze arbeiten - und zwar abseits der aufgrund von Ausnahmeregelungen legalen Mindestlohnunterschreitungen. Die je nach Arbeitszeiterfassung deutlich voneinander abweichenden Zahlen lassen dabei noch einen weiteren Schluss zu: In vielen Fällen wird durch Drehen an der Arbeitszeitschraube getrickst. Anders gesagt, viele ArbeitnehmerInnen haben zwar einen Vertrag, laut dem sie nach Mindestlohn beschäftigt werden, faktisch aber arbeiten sie länger als offiziell vereinbart.

 

Neben der Fälschung von Arbeitszeiten gibt es aber noch weitere Betrugsmöglichkeiten, um den effektiven Stundenlohn zu drücken. Bereits wenige Monate nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns hatte SVZ.de von zahlreichen „Lohn-Tricks der Arbeitgeber“ berichtet. Da wird nur ein Teil der Arbeit zum Mindestlohn abgerechnet, etwa weil Überstunden nicht erfasst werden, da werden Nacht- und Sonntagszuschläge oder das Weihnachts-/Urlaubsgeld in den Grundlohn eingerechnet, um auf 8,50 Euro pro Stunde zu kommen. Mal werden Vorbereitungs-, Warte- und Bereitschaftszeiten nicht berücksichtigt oder schlechter vergütet, mal werden Kosten für Arbeitsmaterialien vom ausgezahlten Lohn abgezogen usw.

 

Die illegale Umgehung des Mindestlohns ist zwar strafbar und wird zumindest mit Geldbußen geahndet, doch ist das Risiko, erwischt zu werden, weiterhin gering. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), beim Zoll zuständig für die Überprüfung der Betriebe in Sachen Mindestlohn, ist personell unterbesetzt (vgl. 18.03.2017), weshalb effektive flächendeckende Kontrollen bis heute nicht möglich sind. Besagte Mindestlohnkommission hat in ihrem ersten Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns die Mindestlohnverstöße zwar thematisiert, sich dabei aber auf die bloße Wiedergabe der vom Zoll zur Verfügung gestellten Informationen beschränkt. Weder sind eigene Daten erhoben worden, noch hat die Kommission zu den Umgehungspraktiken Stellung genommen.

 

Fortbestehende gesetzliche Ausnahmeregelungen, unzulängliche Dokumentationspflichten, kriminelle Kreativität der Arbeitgeber, unzureichende Mindestlohnkontrollen und eine dank paritätischer Besetzung sich selbst neutralisierende Mindestlohnkommission, all dies spricht dafür, dass es wohl auch im nächsten Jahr heißt, überraschend viele Beschäftigte werden immer noch um den Mindestlohn gebracht. Doch überraschend ist daran nichts.

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Quellen:

DIW-Pressemitteilung vom 06.12.2017.

 

Burauel, P./ Caliendo, M. u.a. (2017): Mindestlohn noch längst nicht für alle – Zur Entlohnung anspruchsberechtigter Erwerbstätiger vor und nach der Mindestlohnreform aus der Perspektive Beschäftigter. DIW Wochenbericht Nr. 49, S. 1109-1123.

 

Kalina, T./ Weinkopf, C. (2017): Niedriglohnbeschäftigung 2015 – bislang kein Rückgang im Zuge der Mindestlohneinführung. IAQ-Report, Nr. 06/2017, Duisburg.

 

„Arbeitgeber tricksen beim Mindestlohn“, Süddeutsche.de vom 06.12.2017.

 

„Die 15 Lohn-Tricks der Arbeitgeber“, SVZ.de vom 03.03.2015.

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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