prekäre und atypische Beschäftigung

 

ATYPISCHE BESCHÄFTIGUNG:

 

27/10/2016:

Prekäre und atypische Beschäftigung sind nicht erwünscht

(von Markus Krüsemann)

 

Die Bundesregierung hat die Menschen nach ihren Wünschen für ein gutes Leben gefragt und im Bereich Arbeit eine deutliche Antwort erhalten: Die Beschäftigten wollen keine prekären und atypischen Jobs, denn ohne gute und sichere Arbeitsplätze leidet ihre Lebensqualität, sagen sie. Das ist ein klarer Handlungsauftrag!

 

Sage niemand, dass der aktuellen Bundesregierung das Wohlergehen ihrer Untertanen nicht am Herzen liege. Sie hat sie sogar danach befragt, denn sie möchte mehr darüber wissen, was den Menschen im Leben wichtig ist. Das soll aber kein Selbstzweck sein. Nein, die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger, sagt sie, soll Maßstab für eine erfolgreiche Politik in Deutschland werden. Hallelujah!

 

Irgendjemand im Kanzleramt muss da im Urlaub mal Hannah Arendt gelesen haben, die ein Leben nur als gutes Leben für lebenswert erachtet hatte. Und die Bedingungen für ein gutes Leben zu schaffen, das ist ja bekanntlich immer schon Ziel der Politik der Bundesregierung gewesen - jedenfalls für die oberen paar Prozent der Bevölkerung.

 

Was wie eine Realsatire klingt, hat durchaus einen ernsten Hintergrund. Wurden Wohlstand und Wohlergehen einer Gesellschaft bisher nahezu ausschließlich, zugleich aber völlig unzureichend am Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gemessen, so soll der Wohlstandsbegriff zukünftig anders gefasst und um zusätzliche Kriterien erweitert werden, Kriterien, die die Menschen selbst für wichtig erachten. Statt sich dafür nun aber am bereits vorhandenen großen Wissensfundus der Sozialwissenschaften zu bedienen, hat man in Berlin das Feld lieber noch einmal neu aufgerollt und einen erheblichen personellen und finanziellen (Süddeutsche.de spricht von 3,5 Mio. Euro) Aufwand getrieben, um die Vorstellungen der Menschen von einem guten Leben und ihre Wünsche für selbiges in Erfahrung zu bringen.

 

So sind im vergangenen Jahr in ganz Deutschland 203 so genannte Bürgerdialoge geführt worden, in denen die Menschen nach ihren Vorstellungen von Lebensqualität gefragt worden sind. Wer nicht vor Ort war, der konnte sich per Online-Dialog oder mittels Postkarte beteiligen. Nach Auswertung der Antworten von mehr als 15.000 Teilnehmenden wurde aus den (nicht repräsentativen) Ergebnissen und unter Hinzuziehung von Erkenntnissen der Forschung zur Lebensqualitat schließlich ein Indikatorenset entwickelt: Nicht weniger als 46 Indikatoren aus zwölf Dimensionen sollen fürderhin den Stand und die Entwicklung der Lebensqualität in Deutschland beschreiben, heißt es im Bericht der Bundesregierung dazu.

 

Die Qualität der Arbeit ist ein zentraler Faktor für ein gutes Leben

 

In einer Gesellschaft, die dermaßen stark auf der Lohn- und Erwerbstätigkeit der großen Mehrheit ihrer Mitglieder aufgebaut ist, spielt die Qualität der Arbeit für den Wohlstand und die Lebenszufriedenheit der Menschen quasi naturgemäß eine zentrale Rolle. Mit der Dimension “Gut arbeiten und gerecht teilhaben” und der Dimension “Ein sicheres Einkommen” beziehen sich im genannten Bericht gleich zwei der zwölf Dimensionen von Lebensqualität auf Aspekte des Berufs- und Erwerbslebens. Die Qualität der Arbeit spielt ebenfalls eine Rolle bei der Frage nach der Zeitsouveränität der Menschen, ebenso geht sie in die Frage mit ein, welche Bedeutung Gesundheit für die Lebensqualität hat.

 

Interessant ist nun, dass neben der Höhe der Löhne und Gehälter sowie anderer Indikatoren in der Dimension guter Arbeit explizit auch das Ausmaß atypischer Beschäftigung als Indikator auftaucht. Und das natürlich zu Recht: Lang schon ist bekannt, dass eine sichere, verlässlich geregelte und ordentlich bezahlte Arbeit eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Leben sowie materielles und psychisches Wohlergehen ist. Atypische Beschäftigungsformen lassen genau diese Qualitäten aber fast immer vermissen.

 

Atypisch Beschäftigte sind vielfach benachteiligt

 

Schlechte Bezahlung, Niedriglöhne, zu geringer Arbeitsumfang (geringfügige und unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung), nur befristete Anstellungen, Leiharbeit: Es sind solche miesen Jobs, die die Menschen in die von Robert Castel so genannte und hinreichend beschriebene Zone der Prekarität stoßen, aus der zu entweichen ihnen nur selten gelingt.

 

Auf die materiellen Nachteile ist bereist in vielen Studien hingewiesen worden. Die Einkommen von atypisch Beschäftigten liegen im Mittel deutlich unter jenen von NormalarbeitnehmerInnen (vgl. Brehmer/Seifert 2008), ja fast die Hälfte der atypisch Beschäftigten hatte etwa 2010 für einen Niedriglohn gearbeitet (siehe 29.07.2014). Weitere Nachteile konnten in Bezug auf die Integration in die sozialen Sicherungssysteme und im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung nachgewiesen werden. Zudem stehen atypisch Beschäftigte auch bei der Förderung beruflicher Qualifikationen und Kompetenzen hintenan (siehe 11.03.2014).

 

Neben den materiellen Folgen - Arbeitsarmut und Altersarmut als Barrieren halbwegs auskömmlicher Existenzbedingungen und gesellschaftlicher Teilhabe - sind auch die psychischen Folgen eines Erwerbslebens jenseits des Normalarbeitsverhältnisses (unbefristete Vollzeitbeschäftigung außerhalb der Leiharbeit) oft gravierend oder zumindest der Lebenszufriedenheit abträglich. Arbeiten jenseits der „Norm“ wirkt sich nachweislich negativ auf das Privatleben aus, das von der oftmals prekären Erwerbssituation der atypisch Beschäftigten in Mitleidenschaft gezogen wird (vgl. Gerlach u.a. 2015).

 

Eine erst kürzlich bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) erschienene Studie über die Folgen atypischer Beschäftigung für die psychische Gesundheit kommt zu vergleichbaren Resultaten. Die umfangreiche Aufarbeitung des Forschungsstandes zum Thema hat ergeben, „dass atypisch Beschäftigte häufiger von gesundheitlichen Beeinträchtigungen und weniger Motivation sowie weniger Leistung bei der Arbeit berichten als Normalbeschäftigte“ (Hünefeld 2016:5).

 

Die Nachteile sind den Menschen bekannt und werden auch so erfahren

 

In den Bürgerdialogen haben die Menschen genau das zur Sprache gebracht: “Wenn unsichere Arbeitsverhältnisse zu einem Dauerzustand werden, wird dies von den Meisten als belastend empfunden. Dementsprechend wurde die Verbreitung von befristeten Arbeitsverträgen oder Leih- und Zeitarbeitsverhältnisse kritisiert“ (Bericht der Bundesregierung, S. 45).

 

Das war aber auch schon fast alles, was der Bericht über die Einstellungen und Bewertungen der Menschen zu atypischer und prekärer Beschäftigung anzuführen weiß. Nimmt man noch die Aussagen in der Dimension “Sicheres Einkommen” hinzu, so erfährt man wenigstens noch, dass die Menschen Niedriglöhne und generell schlechte Entlohnung ebenfalls ablehnen: “Die Höhe der Bezahlung (...) soll gerecht und angemessen sein und ein auskömmliches Leben ermöglichen“ (S. 50). Auch hier wird eine klare Ablehnung prekärer Beschäftigung und einer damit verbundenen schlechten Bezahlung sowie nicht existenzsichernder Löhne offensichtlich.

 

Höchste Zeit, um gegenzusteuern

 

Nachdem die Bürgerinnen und Bürger jeweils nur sehr kurz zu Wort gekommen sind, räumt sich die Bundesregierung umso mehr Platz ein, um die Indikatoren und Befunde in ihrem Sinne zu erläutern. Zwar kann sie die von den Bürger/innen angeführten Missstände in der Arbeitswelt schlecht leugnen, doch räumt sie sie in ihrem Bericht nur teilweise ein. Sicher, die negativen Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien werden nicht verschwiegen. Ansonsten ist der Bericht aber sichtlich bemüht, das Problem zu verharmlosen. Von Freiwilligkeit ist da die Rede und von einer Brückenfunktion in reguläre Arbeit. Verharmlost wird das Problem atypischer Beschäftigung auch dadurch, dass man Statistiken anführt, die das ganze Ausmaß atypischer Beschäftigung gar nicht abbilden (vgl. 27.04.2015). Auf eine Benennung von Ursachen für die negativen Entwicklungen am Arbeitsmarkt hat man wohlweislich gleich ganz verzichtet.

 

Anders als der Bericht weismachen will, zeigt die Realität, dass das Problem unhaltbarer Zustände am Arbeitsmarkt weiter zunimmt. Nach Angaben aus der regionalen Datenbank "Atypische Beschäftigung" des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung hat sich der Anteil atypischer Jobs an der Gesamtbeschäftigung auch 2015 wieder erhöht. Lag er 2014 bereits bei hohen 38,9 Prozent, so waren 2015 rund 39,3 Prozent aller abhängigen Hauptbeschäftigungsverhältnisse (ohne Beamte und Selbständige) Teilzeitstellen, Minijobs und Beschäftigungsverhältnisse in der Leiharbeit. Das ist der höchste Stand seit 13 Jahren (siehe 26.04.2016).

 

 Entwicklung der abhängigen Beschäftigung nach einzelnen Erwerbsformen

Entwicklung atypischer Beschäftigung 2007-2015
Quelle: WSI Datenbank "atypische Beschäftigung"

 

Politik des "Weiter so" ignoriert die Wünsche der Bevölkerung

 

Aus den aktuellen Befunden wie auch aus den genannten Bedenken und Kritiken der angehörten Bürgerinnen und Bürger müsste die Bundesregierung eigentlich einen klaren Handlungsauftrag ableiten: Die mutwillig zerstörte Ordnung am Arbeitsmarkt muss wieder hergestellt werden. Die mit der jahrzehntelang betriebenen Deregulierungspolitik bewusst herbeigeführte Spaltung des Arbeitsmarktes, die Etablierung und Aufrechterhaltung eines ausufernden Niedriglohnsektors und die Ausweitung prekärer Beschäftigungsformen, all dem muss, nimmt man die Kritik der Menschen ernst, grundsätzlich ein Ende gesetzt werden. Das, und nur das, wäre eine Arbeitsmarktpolitik, die die Lebensqualität der Bevölkerung zum Maßstab nimmt.

 

Diesen einfachen logischen Schluss kann und/oder will die Regierung nicht ziehen, dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man den abschließenden Ausführungen des Kapitels zu Arbeit und Teilhabe betrachtet. Aus ihrer Sicht war die Strategie der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gut und richtig. Nun gehe es noch darum, dabei entstandene „Regulierungslücken“ zu schließen. Das ist kein Strategiewechsel, das ist ein „Weiter so“, von dem die prekär Beschäftigten längst die Nase voll haben.

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Quellen:

Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland, Oktober 2016, Berlin.

 

Brehmer, W./ Seifert, H. (2008): Sind atypische Beschaftigungsverhältnisse prekär? Eine empirische Analyse sozialer Risiken. In: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, 41. Jg., H. 4, S. 501 - 531.

 

Gerlach, I./ Ahrens, R. u.a. (2015): Die Bedeutung atypischer Beschäftigung für zentrale Lebensbereiche, FFP-Policy Brief, Juni 2015, Münster.

 

Hünefeld, L. (2016): Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt: Atypische Beschäftigung. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund/Berlin/Dresden.

 

Süddeutsche.de vom 25.10.2016

 

Zeit online vom 26.10.2016

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Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen.

 

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